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Frankfurter Rundschau, 2 July 2002

Dirk Moses



Das Pathos der Nüchternheit

Die Rolle der 45er-Generation im Prozess der Liberalisierung der Bundesrepublik

Die Untersuchung der "45er-Generation" wirft ein neues Licht auf die Entwicklung der Bundesrepublik: "Generationen sind kollektive Akteure, die durch ähnliche Erfahrungen und Deutungsmuster geschaffen werden und die, bei allen Unterschieden im Einzelnen, als geschichtsprägende Kraft erkennbar werden."

In letzter Zeit hat sich der Generationsbegriff als Erklärungsansatz für gesellschaftlichen und kulturellen Wandel in weiten Bereichen der Geschichtsforschung durchgesetzt. Ansätze, die mit Klassen und Interessen arbeiteten, verloren an Überzeugungskraft, als deutlich wurde, dass soziale Modernisierungsprozesse allein kulturelle Phänomene nicht erklären können, ja, dass solche Phänomene nicht einfach nur Spiegelungen einer vermeintlich realen sozialen "Wirklichkeit" sind. Dabei lässt sich auf ältere Forschungen zurückgreifen: Bereits in den zwanziger Jahren hatte der Soziologe Karl Mannheim die Generationsbildung mit geschichtlichem Wandel verknüpft, um so die zeitspezifischen Haltungen verschiedener Jahrgänge während der Weimarer Republik zu erklären.

Wenige Gesellschaften haben im zwanzigsten Jahrhundert mehr politische Krisen und Brüche durchlebt als die deutsche, und kein Bruch war traumatischer als die Zäsur von 1945. Dies gilt insbesondere für die damals Jugendlichen, wie beispielsweise Egon Bahr und Helmut Kohl, Günter Grass und Martin Walser, Carola Stern und Wilhelm Hennis oder Rudolf Augstein. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Bezeichnungen für diese Jahrgänge: die "Hitlerjugend", die "betrogene Generation", die "Wiederaufbau-Generation" oder sogar die "Auschwitz-Generation". Anstelle dieser Bezeichnungen möchte ich den Begriff der "45er-Generation" vorschlagen, weil dieser auf die Zeit der Prägung dieser Jahrgänge verweist, ohne sich aber inhaltlich auf eine bestimmte Erfahrung festzulegen.

Denn die Jugendlichen von 1945 hatten durchaus unterschiedliche Kriegserfahrungen: Manche blieben von direkten Kampfhandlungen verschont, andere waren junge Frontsoldaten oder dienten als Flakhelfer, wieder andere wurden als Hitlerjungen mit Panzerfäusten bewaffnet den alliierten Truppen entgegengeworfen, wie es Bernhard Wicki in seinem Film Die Brücke dargestellt hat. Die weiblichen Angehörigen dieser Generation sind ebenfalls durch unterschiedliche Kriegserlebnisse traumatisiert worden. Alle Jugendliche von 1945 standen nach dem Zweiten Weltkrieg einer vergleichbaren Situation gegenüber: Angesichts des Bankrotts der Ideale, an die viele von ihnen geglaubt hatten, angesichts der nun erkennbar werdenden Verbrechen desjenigen Staates, in dem sie sozialisiert wurden, waren sie alle herausgefordert, sich geistig neu zu orientieren. Die erste Generation deutscher Studenten nach dem Krieg, also ungefähr die Jahrgänge 1922-32, begegnete deshalb den intellektuellen Traditionen ihres Landes mit der Erfahrung eines moralischen Bruchs.

Nach Karl Mannheim sind Generationen komplexe Gebilde, bestehend aus jeweils mehreren Generationsteilgruppen, die miteinander im Widerstreit liegen, wenn es um die Antwort auf die "Generationsfrage" geht. Wie würde eine solche Frage für die 45er lauten? Der Publizist Christian Graf von Krockow, geboren 1927, sagt von seiner Generation, dass sie alt genug war, um den Krieg, den Aufstieg und den Fall des "Dritten Reiches" bewusst mitzuerleben, und jung genug, um wieder neu anfangen zu können. Der ,Auftrag' dieser Generation bestand darin, dafür zu sorgen, dass "es nicht noch einmal passiert". Konkret bedeutete dies, dafür Sorge zu tragen, dass die Bundesrepublik eine funktionstüchtige und stabile Demokratie wurde - sozusagen die "zweite Chance" für Deutschland wie auch für die 45er selbst. Die Erfahrung von Krieg, ideologischem Fanatismus und dem politischen wie sozialen Zusammenbruch bewirkte bei den 45ern ein starkes Interesse an der Frage, wie es zu "1933" hatte kommen können - und vor allem, wie sich vermeiden lässt, dass es sich wiederholt.

Viele der 45er, die sich später einen Namen machten, verbrachten die entscheidenden Jahre ihres wissenschaftlichen und politischen Werdegangs an amerikanischen oder britischen Hochschulen. Und es war kein Zufall, dass emigrierte Hochschullehrer - oft Juden - wie Ernst Fraenkel, Richard Löwenthal und natürlich Max Horkheimer und Theodor W. Adorno wichtige Vorbilder für die 45er waren. Daneben bestand aber auch ein großes Interesse an denjenigen Intellektuellen, die in Deutschland geblieben waren und sich, wenn auch in manchen Fällen nur teilweise oder für kurze Zeit, mit dem Nazi-Regime identifiziert hatten, also Figuren wie Martin Heidegger, Carl Schmitt, Hans Freyer und Helmut Schelsky.

Die 45er wurden gemeinsam mit der Bundesrepublik erwachsen. Sie erlebten den Wechsel des politischen Klimas nach 1958: die Auseinandersetzung um die Wiederbewaffnung, den Prozess gegen Eichmann in Israel, die bundesdeutschen Gerichtsverfahren gegen KZ-Wachmänner, die Spiegel-Affäre, die Fischer-Kontroverse über die Ursachen des Ersten Weltkrieges, die Debatte um die Bildungsreform, den Beginn der neuen Ostpolitik, die Bad Godesberger Reformen der SPD, die ersten Bücher von Walser, Grass und Hochhuth. Die 45er waren in dieser Umbruchszeit zwischen 30 und 40 Jahre alt und nahmen in zunehmenden Maße einflussreiche Positionen ein, in Hochschulen und in den Medien. In diesen Auseinandersetzungen um 1960 spielten die 45er bezeichnenderweise oft eine führende Rolle.

Der Einfluss dieser Generation auf die Entwicklung der Bundesrepublik wird unterschiedlich bewertet. Die Hoffnungen auf eine moralische und nationale Wiedergeburt mit Hilfe der jungen Generation, wie sie etwa die einige Jahre älteren Schriftsteller Hans Werner Richter und Alfred Andersch hegten, wurden nach dem Krieg erst einmal enttäuscht. Man sprach damals von der "ohne mich"-Generation, und in den fünfziger Jahren kursierte der Begriff der "skeptischen Generation" (Helmut Schelsky), die sich für Politik nicht interessiere. Seitdem wird die in den zwanziger und den frühen dreißiger Jahre geborene Generation als apolitisch eingeordnet, entweder, um sie zu feiern, wie Schelsky das tat, oder aber um sie, etwa mit Alexander Mitscherlich, zu kritisieren.

Die Realität dieser Generation ist jedoch komplexer als das Bild, das derartige Klischees zeichnen. Was die 45er rundweg ablehnten, war politische "Schwärmerei". Extreme Ideologien hatten keine Chance, man pflegte das "Pathos der Nüchternheit". Dies war das Engagement, das man als der Demokratie angemessen ansah. Über die anzustrebende Gestalt der deutschen Demokratie gab es hingegen ein Spektrum von unterschiedlichen Vorstellungen in dieser intellektuellen Generation. Die einen setzten sich für eine liberale Demokratie ein, während andere - wie Jürgen Seifert, Arno Klönne, Jürgen Habermas, Günter Gaus und Peter von Oertzen - damals einen demokratischen Staat mit sozialistischer Einfärbung anstrebten.

Trotz unterschiedlicher Vorstellungen gab es aber die gemeinsame grundlegende Überzeugung, dass sich Westdeutschland genau an demjenigen orientieren sollte, was im Nationalsozialismus unterdrückt worden war. Dies bezog sich insbesondere auf die westlich-aufgeklärten Ideale und Vorstellungen. Die 45er standen insgesamt für die Verwestlichung der Bundesrepublik: Sie richteten öffentliche Debatten und politische Kultur am westlichen Vorbild aus, unterzogen die nationale Geschichte einer kritischen Revision und entfalteten eine neue Tradition sowohl des linksliberalen als auch des konservativ-liberalen Bürgertums. Damit prägten sie die Bundesrepublik nachhaltig.

Wenn nun aber die 45er die Demokratisierung und Liberalisierung Westdeutschlands derart voranbrachten, welchen Sinn hatte dann der Protest der 68er-Generation? Um diese Entwicklung besser zu verstehen, muss man das Verhältnis der 45er zu ihrer Vorgängergeneration in den Blick nehmen. Hermann Lübbe (Jahrgang 1926) hat in diesem Zusammenhang auf die zentrale Funktion des "Beschweigens" der persönlichen Vergangenheiten in den fünfziger Jahren hingewiesen: "Nicht eine einzige Universität, keine kommunale Verwaltung, kein privater Betrieb, kein Unternehmen", schreibt er, "hätte sich wiederaufbauen lassen, wenn im Umgangston der auf Kooperation Angewiesenen der Ton des Vorwurfs (,Wie konnten Sie nur?') zum herrschenden Dauerton geworden wäre".

Der ödipale Konflikt zwischen den 45ern und der Generation ihrer Väter blieb aber noch aus einem anderen Grund aus. Angesichts der massiven Diskreditierung der Väter durch die Katastrophe, die diese Generation über Deutschland und die Welt gebracht hatte, hielt man eine solche Auseinandersetzung schlichtweg für überflüssig. In einem Kursbuch aus dem Jahre 1965 stellte Karl Markus Michel, Jahrgang 1929, fest, dass nach 1945 "die jungen Männer in Deutschland nur Trümmer vorfanden. Was die Väter geschafft hatten, war so ungeheuerlich, dass es jeder Anprangerung spottete."

Man mag einwenden, dass die Integration dieser Männer die Liberalisierung des Landes verzögert oder behindert habe. Lübbe selbst räumt ein, dass es in den Jahren nach dem Krieg "viel stumme Borniertheit und unveränderte Identifikation mit der ideologischen Orientierung gab, die einen hatten mitmachen lassen". Dennoch war die Zusammenarbeit der 45er mit der vorangehenden Generation notwendig, um die bundesrepublikanische Gesellschaft funktionsfähig zu machen.

Für diese unumgängliche Integration der Täter-Generation musste jedoch auch ein Preis gezahlt werden. So erfolgreich sich diese Strategie für das Zustandekommen des "Wirtschaftswunders" erwies, konnte es doch nur in Politik und Wirtschaft Anwendung finden, und es ist wenig überraschend, dass Lübbe seine Beispiele nur aus diesen beiden Bereichen nimmt. Es gibt jedoch eine Reihe von Hinweisen darauf, dass die Moral in privaten Kreisen der öffentlichen Moral hinterherhinkte, und dass sich die schweigende Mehrheit lieber mit den Leiden der eigenen Angehörigen befasste als mit dem Leiden der Opfer der Deutschen.

Angesichts dessen verwundert es nicht, dass die Generation der 68er, von der schweigenden Mehrheit aufgezogen und keine Vertragspartei im großen Stillhalteabkommen zwischen den 45ern und deren Vorgängergeneration, an der Demokratiefähigkeit ihrer Elterngeneration zweifeln musste. Verschärft wurde dieser Zweifel, weil in den sechziger Jahren immer deutlicher wurde, dass viele Ex-Nazis und Mitläufer nach dem Krieg einfach in Amt und Würden blieben. Daher verwundert es nicht, dass die 68er das Vertrauen in die 45er und in die bestehenden gesellschaftlichen Institutionen verloren und im "roten Jahrzehnt" (Gerd Koenen) nach 1967 sich offen gegen das Bestehende auflehnten.

Wenn aber die 45er so liberal waren, wie konnten sie dann in einen Konflikt mit der jüngeren Generation geraten? Dieser Konflikt erklärt sich zu einem guten Teil aus dem Umstand, dass viele der 45er bei den 68ern totalitäre Züge sahen, die sie an die Bewegungen der Weimarer Jahre erinnerten. Von diesen aber hatten sie sich distanziert. So hatte Kurt Sontheimer, Jahrgang 1928, in seiner Habilitationsschrift Konservatives Denken in der Weimarer Republik (1962) bestimmte Aspekte des Denkens der 1920er Jahre attackiert - und nun deuteten er und andere wie Karl Dietrich Bracher, Jahrgang 1922, die 68er als eine Generation, die eben dieses Denken der zwanziger Jahre zu rehabilitieren versuchte.

Auch wenn das Generationsmodell nicht als Generalschlüssel gelten kann, der alle Phänomene befriedigend erklärt, lässt sich doch mit seiner Hilfe ein neues Licht auf die Entwicklung der Bundesrepublik werfen. Generationen sind kollektive Akteure, die durch ähnliche Erfahrungen und Deutungsmuster geschaffen werden und die, bei allen Unterschieden im Einzelnen, als geschichtsprägende Kraft erkennbar werden, wie das Beispiel der 45er zeigt. Für eine Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik, wie sie derzeit im Entstehen ist, ist daher das Generationsmodell ein unverzichtbarer Bestandteil.

Erscheinungsdatum 02.07.2002