Bayerischer Rundfunk, July 2002
(to Günther Anders Main Page; Anders Links Page; copy in Internet Archive)

Dem Apokalyptiker zum 100. Geburtstag

Iris Buchheim in Zusammenarbeit mit Reinhard Wittmann (vita, audio)

Ein Massaker im Ersten Weltkrieg, das Exil, der Genozid an den Juden und die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki - diese vier katastrophalen Ereignisse prägten entscheidend den intellektuellen Werdegang von Günther Anders. Hiroshima war für ihn der Tag Null, der Beginn einer neuen Ära für die Menschheit, die erstmals zu spüren bekam, dass in der planetarischen Technik das Potenzial zur Selbstauslöschung der gesamten Menschheit lag. Von da an prophezeite Günther Anders in immer neuen Varianten den Untergang und wetterte brillant gegen die "Apokalypseblindheit" all derer, die die Zeichen der Gefahr nicht zur Umkehr nutzen wollten oder konnten.

Prophet der Verzweiflung

In plastischen Bildern beschwor Anders, was er zu verhindern suchte: die atomare Bedrohung - Atomkraftwerke nannte er "Zeitbomben mit unfestgelegtem Explosionstermin" - , die wachsende Verblödung durchs Fernsehen, das die Leute zu "unmündigen Masseneremiten" mache, und die ruinösen Auswirkungen einer sich verselbständigenden modernen Technik. Für Anders stand fest, "dass wir der Perfektion unserer Produkte nicht gewachsen sind; dass wir mehr herstellen als vorstellen und verantworten können; und dass wir glauben, das, was wir können, auch zu dürfen, nein: zu sollen, nein: zu müssen" (Die Antiquiertheit des Menschen. 5. Auflage, 1980; Vorwort).

Brillanter Schriftsteller

Anders, dieser Denker von Auschwitz und Hiroshima, der allen Friedens- und Ökologiebewegten so viel Munition lieferte wie sonst wohl kein Philosoph, war zugleich ein brillanter Schriftsteller und Geschichtenerzähler. Der Denker, der am 12. Juli 100 Jahre alt geworden wäre, war außerdem ein passionierter Didakt, der mit leicht irritierenden Fabeln die Leute zum Denken und Umdenken bringen wollte.


Vita Günther Anders - Pseudonym für Günther Stern (back to top)

Am 12.7.1902 wurde Günther Stern als Sohn des Psychologenpaares Clara und William Stern in Breslau geboren. Er wuchs in Breslau und Hamburg auf und studierte in Hamburg, Freiburg und Berlin Philosophie. Bei Edmund Husserl promovierte er 1923 über "Die Rolle der Situationskategorien im Logischen". Als Mitherausgeber der Zeitschrift "Das Dreieck" veröffentlichte er 1928 "Über das Haben. Sieben Kapitel zur Ontologie der Erkenntnis", seine erste selbständige philosophische Schrift.

Ende der 20er Jahre lernte Stern Bert Brecht kennen und schrieb den Radiovortrag "Brecht als Denker". Daraufhin verschaffte ihm der Dichter eine Stelle im Kulturteil des Börsen-Couriers. Dessen Chef Herbert Ihering soll ihn 1930 ermuntert haben, "sich doch anders" zu nennen. Der Legende nach war das der Anfang des Pseudonyms Günther Anders.

1929 hatte Stern Hannah Arendt geheiratet, die junge Philosophin, die er in den Seminaren von Martin Heidegger kennen gelernt hatte. Die Ehe ging bald wieder zu Bruch, 1937 ließen sich Arendt und Stern scheiden. Die Sterns hatten inzwischen die Flucht vor den Nationalsozialisten ergriffen: Günther Stern war 1933 nach Paris und 1936 nach Amerika emigriert. Er erfuhr extrem und am eigenen Leib die "Unbehaustheit" des modernen Menschen. In seinen philosophischen Tagebüchern nannte er sich später selbst einen "Berufsemigranten". Im Exil setzte er sich kritisch mit Heideggers Existenzphilosophie auseinander, verfasste aber auch literarische Texte und Gedichte, darunter die hinreißende Geschichte vom "Leichenwäscher der Geschichte".

1950 zog Anders nach Wien, wo er 1956 mit seinem Opus "Von der Antiquiertheit des Menschen" den großen Durchbruch feierte. Von nun an wurde er geschätzt und gefürchtet als einer der scharfsichtigsten Zivilisationskritiker der Zeit und als philosophische Stimme, die sich aktiv einmischt bei allen politischen und ökologischen Diskussionen. Mit 90 Jahren starb Anders in Wien, etwas verbittert und verbiestert, weil seine Kassandra-Rufe seit den 80er Jahren oft ungehört verhallten.


Audio (back to top)

Günther Anders: "Der Blick vom Turm"
"Wir" heißt die Fabel vom Öchslein, dem es ganz mulmig wird, als es auf den Kadaver eines Hundes stößt. Gert Heidenreich liest. (link available on Internet Archive)

"Der Löwe" von Günther Anders
"Als die Mücke zum ersten Male den Löwen brüllen hörte, da sprach sie zur Henne: 'Der summt aber komisch'.
'Summen ist gut' fand die Henne.
'Sondern?' fragt die Mücke.
'Er gackert', antwortet die Henne. 'Aber das tut er allerdings komisch.'"

zitiert nach: Günther Anders: Der Blick vom Turm. Fabeln. C.H. Beck Verlag, München 1988

Von Anders' Zeit im amerikanischen Exil und seinem Job in der Reinigungskolonne des Hollywood Custom Palace erzählt die packende Geschichte Leichenwäscher der Geschichte.

Günther Anders: "Leichenwäscher der Geschichte"
Gert Heidenreich liest aus der Geschichte, erschienen in: Günter Anders. "Tagebücher und Gedichte", C. H. Beck Verlag, München 1985 (link available in Internet Archive)


page created May 2005 by Harold Marcuse, formatting updated May 16, 2005
back to top, to Günther Anders Main Page, to H. Marcuse homepage