Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 49:8(Aug. 2001), pp. 760f.

by Barbara Distel

Harold Marcuse, Legacies of Dachau: The Uses and Abuses of a Concentration Camp, 1933-2001. Cambridge University Press: Cambridge 2001, 590S.

Zeitschrift fuer Geschichtswissenschaft, review of Legacies of DachauDie umfangreiche und detaillierte Studie von Harold Marcuse über Umgang und Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbechen am Beispiel Dachaus ist ein bedeutsamer Beitrag zur aktuellen Discussion. Gerade im Hinblick auf die aus den USA kommenden, auch hier erfolgreichen Publikationen von Goldhagen, Novick und Finkelstein und deren oftmals spekulative Thesen überzeugt die präzise, genau recherchierte Darstellung und Analyse des Fallbeispiels Dachau.

Das erste Kapitel enthält einen kurzen Abriss über die Geschichte des Konzentrationslagers Dachau, die Befreiung des Lagers und die Rolle der US-Armee in der unmittelbaren Nachkriegszeit bis zum Abschluß der amerikanischen Militärgerichtsprozesse. In den folgenden drei Kapiteln werden in chronologischer Darstellung die in der Folgezeit enstandenen Mythen, das Verhalten der beteiligten Gruppen und Einzelpersonen und deren Umgang mit den baulichen Überresten des Konzentrationslagers beschreiben und in die Gesamtentwicklung der Bundesrepublik eingeordnet.

Marcuse stellt fest, dass im Zeitraum 1945 bis 1955 eine Umkehrung der Rollen stattfand. Die Täter und Mitläufer sahen sich als Opfer, sie nahmen trotz Umerziehungsversuche niemals das Schicksal der tatsächlichen Opfer der Verfolgungs- und Mordpolitik zur Kenntnis, sondern verharrten in Selbstmitleid und Selbstgerechtigkeit. Die überlebenden Opfer und Gegner Hitlers wurden diskreditiert und kriminalisiert, negative Stereotypen aus der NS-Zeit (Juden, Kommunisten, Kriminelle) weiter verwendet. Der Anspruch der Überlebenden auf Entschädigung und Erinnerung wurde als Zumutung an die Mehrheitsgesellschaft zurückgewiesen, eine Haltung, die durch die Entwicklung des Kalten Krieges und die veränderte Politik der Amerikaner immer stärker on Legitimation gewann. Das von den Nationalsozialisten verbreitete propagandistische Bild der KZ als "saubere" Lager, die der Absonderung und Umerziehung von Kriminellen dienten, wurde aufrechterhalten. Gleichzeitig versteckte eine Mehrheit der bundesrepublikanischen Gesellschaft sich hinter dem Mythos, man habe von den Verbrechen nichts gewußt. Der Widerspruch, daß man einerseits nicht gewusst habe, andererseits jedoch selbst bedroht, also Opfer der Verhältnis gewesen sei ja selbst litt Rahmen des Möglichen "Widerstand" geleistet habe, wurde nicht wahrgenommen.

Im Zeitraum 1931 bis 1970 entwickelte sich nach den misslungenen Versuchen, die baulichen Überreste des Konzentrationslagers ganz verschwinden zu lassen, allmählich ein Interesse am Gedenkort Dachau, das von verschiedenen Gruppen mit unterschiedlichen Intentionen verfolgt wurde. Neben den deutschen KZ-Überlebenden, die mit internationaler Unterstützung für die Entstehung einer Gedenkstätte kämpften, besetzte zuerst die katholische Kirche den historischen Ort mit dem Bau einer Kapelle an zentraler Stelle des KZ Geländes noch vor der Schaffung der Gedenkstätte. Die protestantische Kirche und die israelitische Kultusgemeinde konnte nur in Reaktion auf die katholische Inbesitznahme eigene Konzeptionen für sakrale Gedenkbauten entwickeln.

Schließlich führte der Konflikt der "1968er" Generation mit ihren Vätern bei der Einweihung des Mahnmals auf dem ehemaligen Appellplatz im Jahr 1968 zu einem beispielhaften Eklat, bei dem sich Überlebende mit den jungen deutschen Demonstranten prügelten. Dabei wurde deutlich, daß die "Kinder der Täter" mit der gleichen Ichbezogenheit und Selbstgerechtigkeit wie ihre Nazi-Eltern die eigene Sicht der Dinge, ohne Rücksicht auf die Gefühle der Überlebenden Opfer, durchsetzen wollten.

Abschließend beschreibt der Autor die Entwicklung während der Jahre 1970 bis 2000, in denen sich ein weltweites Interesse in der Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen entwickelte. In Dachau führte eine neue Generation die Diskussion uni eine internationale Jugendbegegnungsstätte, die schließlich zur Errichtung eines staatlichen Jugendgästehauses führte. In diesem Zeitraum entwickelte sich ein zunehmendes Interesse am Schicksal der Überlebenden. Der "Gedenkort" Dachau wurde zur Pilgerstätte für hunderttausende Besucher aus aller Welt und für die Bundesrepublik immer mehr zum "Lernort" für Schule und politische Bildungsarbeit. In der Stadt Dachau verkörperte der 1995 neu gewählte Bürgermeister die veränderte Haltung der Stadt gegenüber der NS-Vergangenheit. Das im Jahr 1996 von einem wissenschaftlichen Beirat vorgelegte Konzept für eine Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte wird als Beleg für eine veränderte Haltung der Mehrheitsgesellschaft gewertet.

Die besten und überzeugendsten Abschnitte des Buches sind die Schilderungen konkreter Vorfälle und des Verhaltens von Institutionen und einzelnen Personen aus dem Dachauer Umfeld, mit denen der Autor seine Thesen untermauert. So kann z. B. der erste, nach der Befreiung von der US-Armee eingesetzte Dachauer Bürgerrneister, der ein überzeugter NationalsoziaIist gewesen wir und der schließlich im Jahr 1961 wegen seiner Verunglimpfung der Häftling als "Homosexuelle" und "Kriminelle" zurücktreten mußte, als Musterbeispiel für den Rollenwechsel vom Täter zum Opfer gelten. Der Fall Philipp Auerbach, dem Repräsentanten der jüdischen Überlebenden in Bayern, der in vielfacher Weise in die Auseinandersetzungen um Dachau involviert war und der nach Anschuldigungen, sich mit Wiedergutmachungsgeldern persönlich bereichert zu haben, Selbstmord beging, steht für den Umgang der deutschen Nachkriegsöffentlichkeit in Bayern mit den KZ-Überlebenden.

Bisher unbekannte Quellen hat der Autor vor allem zur Rolle der katholischen Kirche nach 1945 entdeckt. So gab es bereits im Sommer 1941 Verhandlungen zwischen US-General Patton und dem Münchner Kardinal Faulhaber über die Errichtung eines Klosters im Krematorium des Lagers Dachau, die nach dein Unfalltod Pattons nicht weiter verfolgt wurden. Für die weitere Entwicklung in Dachau war die Person des Münchner Weihbischofs Johannes Neuhäusler, der selbst Häftling im KZ Dachau gewesen war, von entscheidender Bedeutung. Er setzte sich nach 1945 (ebenso wie übrigens Martin Niemöller) vehement für die Begnadigung der schlimmsten nationalsozialistischen Massenverbrecher ein. Später war er, dank der herausragenden Stellung der katholischen Kirche in Bayern, maßgeblich am Entscheidungsprozeß für die Errichtung der Gedenkstätte beteiligt. Der Dommikanerpater Leonhard Roth, der ebenfalls Häftling im KZ gewesen und nach der Befreiung weiterhin auf dem Gelände des Lagers tätig war und der sich zunehmend in der lokalen Öffentlichkeit gegen das Verschweigen und Verdrängen exportierte, verübte nach einem Verbot Neuhäuslers, weiterhin in Dachau tätig zu sein, Selbstmord. Neuhäusler war mächtiger Repräsentant einer katholischen Geschichtsinterpretation, die nach Auffassung des Autors, "die historischen Ereignisse aus ihrem historischen Kontext lösen und als Elemente eines Weges zur Erlösung durch das Leiden Christi neu interpretieren wollte".

Die ausführliche Behandlung der Rezeptionsgeschichte des Tagebuchs der Anne Frank in der Bundesrepublik, der Fernsehserie "Holocaust", des Bitburg-Besuchs von Kohl und Reagan und schließlich die Diskussionen um die "Wehrmachtsausstellung" und die Thesen Goldhagens, die den Gesamtrahmen für das Beispiel "Dachau" bilden, bieten dem informierten deutschen Publikum nicht viel Neues. Eine deutsche Ausgabe des Buches, deren baldiges Erscheinen wünschenswert wäre, könnte in diesem Bereich knapper ausfallen. Der Blick auf das exemplarische Lehrstück "Dachau" bereichert unser Wissen um die Nachkriegsgeschichte um viele Facetten und trägt zum Verständnis der noch heute bestehenden Schwierigkeiten bei. Denn trotz der Bemühungen um die Umsetzung der 1996 vorgelegten Neukonzeption für die KZ-Gedenkstätte Dachau wirken die vom Autor konstatierten Verhaltensmuster und Einstellungen gegenüber der Erinnerung an die Opfer der NS-Gewalt auch in den Nachfolgegenerationen weiter. Der Kampf um die Erinnerung ist auch in Dachau noch nicht zu Ende.

Barbara Distel

 


copy scanned by H. Marcuse, August 4, 2003

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