Manuscript published in: Erinnerung: Zur Gegenwart des Holocaust in Deutschland West und Deutschland Ost (Frankfurt: Haag and Herchen, Spring 1993)

Translation of title: 'The Presentation of the Holocaust in Museums at the Sites of Former Concentration Camps in the Federal Republic, 1945-1990'

French translation by Vicky Rotarova, November 2014: "La présentation de l’Holocauste dans les musées sur les sites des anciens camps de concentration dans la République fédérale, 1945-1990."

DIE MUSEALE DARSTELLUNG DES HOLOCAUST AN ORTEN DER EHEMALIGEN KONZENTRATIONSLAGER IN DER BUNDESREPUBLIK,
1945-1990

Heute ist es fast selbstverständlich, daß Ausstellungen an Orten ehemaliger Konzentrationslager in der Bundesrepublik die Geschichte des Holocaust mehr oder weniger ausführlich präsentieren. Sucht man nach solchen musealen Darstellungen in den späten 40er und in den 50er Jahren, sieht die Lage ganz anders aus. Obwohl sehr konkrete Hinweise und Informationen über die systematische Ausrottung der Juden schon während der Kriegszeit vorlagen, scheint das entsprechende Bewußtsein vom Ausmaß der fabrikmäßig betriebenen Fließbanderschießungen und ­vergasungen von Menschen sowohl bei den Alliierten als auch bei der deutschen Bevölkerung während des ersten Jahrzehnts nach dem Krieg nicht vorhanden gewesen zu sein. Wie ich weiter unten ausführen werde, wurde dieses Bewußtsein erst ab Ende der 50er Jahre durch Massenmedien und Gerichtsverhandlungen geschaffen. Insofern müßte ich meine Ausführungen erst nach der 'musealen nicht-Darstellung' des Holocaust einsetzen lassen.

Für die Jahre vor ca. 1960 kann man jedoch die Bezeichnung "museal" auf die bewußte Konservierung und Gestaltung der Orte der NS-Verfolgung und ­Vernichtung beziehen, und den Begriff Holocaust von der spezifischen Bedeutung der Massenermordung der europäischen Juden um andere Verfolgungs­ und Massentötungsprogramme der NS-Machthaber erweitern (z.B. "Euthanasie"; Tötung von sowjetischen Kriegsgefangenen, Sinti, und anderen Minderheiten, sowie die brutale Verfolgung von Regimegegnern aller Art). Diese erweiterte Themenstellung könnte folgendermaßen lauten: Die Darstellung des Holocaust durch die Gestaltung der Orte ehemaliger Konzentrationslager in der Bundesrepublik.

Verschiedene Gruppen haben und hatten unterschiedliche Auffassungen von dem, was "der Holocaust" sei. Diese Auffassungen hängen sehr eng mit dem Erlebten und Erfahrenen bzw. Erlernten jeder Gruppe zusammen.

Am Ende des Krieges sprach man nicht vom "Holocaust", sondern von "Naziverbrechen" ("Nazi atrocities") und assozierte damit Namen wie Ohrdruf, Nordhausen, Gardelegen, Buchenwald, Bergen-Belsen, oder Dachau -- Orte, die, übersät von Gebirgen von Leichen und Sterbenden, von den Alliierten überrannt wurden und tage­ und wochenlang die Medien beherrschten. Heute hat sich diese Vorstellung konsolidiert und verfestigt, wie das 1984 für die Stadt San Francisco geschaffene Holocaustdenkmal von George Segal (ein in Bronze gegossener Leichenhaufen hinter Stacheldraht) belegt. Aber dieses Image wird nunmehr mit dem Namen "Auschwitz" (d.h. Auschwitz-Birkenau) in Verbindung gebracht, also mit dem fabrikmäßigen Menschenmord durch Gas. Ich werde diese Vorstellung als die vom "dreckigen KZ" bezeichnen. Die damalige Vorstellung von der mörderischen, undifferenzierten Massenbrutalität ist relativ nahtlos in die heutige der brutalen, systematischen Massenvernichtung übergegangen, so wie während des Dritten Reiches in umgekehrter Richtung die "saubere" Schließung und Einebnung von Treblinka in die grauenhafte Aufräumung in Bergen-Belsen überging. Die Nachkriegshistorie hat die von den NS-Machthabern verwischten Spuren erst sukzessiv wieder erschlossen.

Diese Vorstellung der Alliierten und vieler heutiger Gruppen vom "dreckigen KZ" ist jedoch eindimensional. D.h., sie berücksichtigt keine zeitliche und räumliche Entwicklung des KZ-Systems. Die Leichenberge werden als Normalzustand der Konzentrationslager seit 1933 zurückprojiziert, bzw. die systematische Ausrottung von Menschen durch Gas als von "Anfang" an existierender Plan angenommen. So grauenhaft es in den deutschen Konzentrationslagern vom ersten Tag an zuging, so viel schlimmer waren die Zustände Anfang der 40er Jahre und gegen Ende des Krieges, während der Gebrauch von Häftlingen in den Rüstungsindustrien anfänglich gewisse Verbesserungen mit sich brachte. Ebenfalls gab es große Unterschiede zwischen den einzelnen Lagern: Dachau und Buchenwald boten geradezu "günstige" Überlebenschancen verglichen mit Mauthausen oder Flossenbürg, die an Grauen wiederum von Auschwitz und Majdanek übertroffen wurden.

Die ehemaligen Häftlinge (und einige sich heute für die KZ Geschichte interessierende Gruppen) haben dagegen ein "mehrdimensionales" Verständnis vom "dreckigen" KZ-System, das zeitliche und räumliche Unterschiede kennt und nach den betroffenen Gruppen differenziert. Dieses Verständnis geht vom weiteren Begriff des Holocaust aus, hat sich im Laufe der Zeit aber auch verändert. Insbesondere ist das Bewußtsein (auch der ehemaligen politischen KZ-Häftlinge) von der Verwendung der KZs nicht nur als Instrumente politischen Terrors, sondern auch rassistischer Staatspolitik seit Anfang der 60er Jahre wesentlich gestiegen.

Es gibt auch eine Gegenvorstellung zu der des "dreckigen" KZs. Diese Auffassung wird selten klar artikuliert; sie kommt zumeist indirekt zum Ausdruck in Aussagen wie die des Nicht-gewußt-Habens. Ich gehe davon aus, daß diese Vorstellung, wenn evtl. nicht vordergründig, insbesondere von denjenigen vertreten wird, die einen "Schlußstrich" ziehen wollen bzw. den Holocaust auf die eine oder andere Weise relativieren oder verharmlosen wollen. Da diese Vorstellung ihren Ursprung in der offiziellen Nazi-Darstellung der Konzentrationslager (aus der Vorkriegszeit) als eine Art mustergültige, ordentliche, aufgeräumte "Arbeitserziehungslager", werde ich diese Vorstellung als die vom "sauberen KZ" bezeichnen.

Natürlich gibt es viele Schattierungen und Variationen zwischen den beiden Vorstellungspolen "dreckig" und "sauber", die sich insbesondere nach den Gruppen und ihren radikal differierenden historischen Erfahrungen und gegenwärtigen Interessen richten. Ich meine, daß sie trotzdem heuristischen Wert haben und zum Verständnis der KZ-/Holocaustrezeption in der Bundesrepublik beitragen können.

Mein Hauptargument in diesem Vortrag lautet: Das jeweilige museal vermittelte Bild "des Holocaust" kann als Versuch verstanden werden, eine von diesen Vorstellungsidealtypen in der Öffentlichkeit durchzusetzen. Es gibt 4 relativ klar abgrenzbare Phasen in der Geschichte der Bemühungen, ein bestimmtes Bild von den ehemaligen Nazi-KZs in Westdeutschland zu vermitteln. Diese Phasen stehen mit bestimmten Gruppen in Zusammenhang und gelten für alle ehemaligen KZs in der Bundesrepublik, wobei es zu zeitlichen Verschiebungen je nach Ort kommt. Diese Variationen sind durch die Besonderheiten der örtlichen Nachkriegsgeschichte, sowie durch die Geschichte des jeweiligen KZs selbst zu erklären.

Die Vier Phasen

1. Die Phase der Besatzungsmacht erstreckt sich von der Befreiung bis etwa zum Jahresbeginn 1948, als der Ost-West-Gegensatz nicht mehr öffentlich zu leugnen war. In dieser Zeit dienten die ehemaligen KZs als Internierungs- und Arbeitslager zur strafweisen Umerziehung der Deutschen. Die Sieger vermittelten ein Bild vom Holocaust, das die Brutalität und Menschenverachtung im alltäglichen Umgang hervorhob.

2. Da die Besatzungmächte im Kalten Krieg bei den Westdeutschen Verbündete suchten --viele ehemalige Häftlinge standen dazu quer--, durften deutsche Behörden unter Ausschaltung der ehemals Verfolgten von etwa 1948 an in einer zweiten Phase eigenmächtig über die Lager bestimmen. In dieser Periode wird das Bild vom sauberen KZ schrittweise verwirklicht, vor allem durch die Beseitigung von Zeugnissen und den Abbau von anschaulichen Überresten.

3. Erst nachdem die heiße Phase des Wirtschaftswunders im vollen Gange war und die ehemaligen Häftlinge sich international organisiert hatten, also etwa ab Mitte der 1950er Jahre, bekamen die Staatsbehörden ernsthafte Konkurrenz. In einem Tauziehen, das in Dachau bis Ende der 60er Jahre andauerte, haben die ehemals Verfolgten Gedenkanlagen höchst unterschiedlicher Ausprägung durchsetzen können.
So wurde in Dachau bis 1965 ein aufgeräumtes, denkmalgeschütztes Lagergebiet mit Museum und Bibliothek verwirklicht; in Bergen-Belsen 1966 eine kleine unbetreute Ausstellung außerhalb des eigentlichen Lagerbereichs, das zu Wald und Wiese geworden war; und in Neuengamme 1965 nur eine schlichte Denkmalsanlage am Rande des in ein Gefängnis verwandelten ehemaligen KZs.
Diese Lösungen waren allesamt mühsam errungene Kompromisse, die als Versuche beschrieben werden können, eine mehrdimensionale Vorstellung von den "dreckigen" KZs aus den zufällig erhalten gebliebenen Überresten zu rekonstruieren.

4. Die letzte Phase wird charakterisiert von einer gegenläufigen Tendenz, die von den nach dem Krieg geborenen Generationen vorangetrieben wird; sie setzt etwa 1970 ein. Vielfach wird die Ausstrahlung des "Holocaust"-Films 1979 als Einschnitt in der Rezeptionsgeschichte des NS-Terrorapparats genommen, aber die nähere Betrachtung zeigt, daß der Interessenaufschwung der 80er Jahre auf einer längeren Entwicklung fußt. Während dieser Phase wurden und werden die Gedenkstätten zu Bildungs- und Forschungseinrichtungen ausgebaut und, was vielleicht das Wesentliche ist, rege in Anspruch genommen. Mit knapp einer Million BesucherInnen im Jahr gehört die Gedenkstätte in Dachau zu den Spitzenmuseen der Bundesrepublik.
In diesen Jahren wurde und wird versucht, den von den ehemaligen Häftlingen abgesteckten mehrdimensionalen Rahmen mit konkretem, nachvollziehbarem Inhalt zu füllen.

1) Die Besatzungsmacht, 1945-1948

Die alliierte Vorstellung von den Konzentrationslagern als von Leichenbergen bedeckten Stätten unmenschlicher Brutalität entstand schlagartig mit der Entdeckung und Eroberung nicht-aufgelöster Lager Mitte April 1945. Am 12. April besichtigte der Oberkommandierende der westalliierten Streitkräfte Eisenhower mit seinen Generalen Patton und Bradley das soeben befreite Buchenwald-Außenlager Ohrdruf (in der Nähe von Gotha). Er befahl, daß sämtliche augenblicklich nicht kämpfende alliierte Einheiten durch dieses und ähnliche Lager geführt wurden, und er veranlaßte die Besichtigung durch Parlamentsdelegationen aus Washington und London, sowie von einer Gruppe der medienwirksamsten Chefredakteure und Journalisten der USA. In kürzester Zeit hatte sich die Vorstellung von den deutschen KZs als grauenhaft "dreckige" Tortur- und Leichenfabriken in der internationalen Öffentlichkeit festgesetzt.

Die Alliierten gaben sich große Mühe, dieses Bild vom dreckigen KZ auch der deutschen Bevölkerung zu vermitteln. Bei Kriegsende wurden deutsche Zivilisten Zeugen des Grauens an zahllosen Orten des NS-Terrors: sie wurden zwangsweise durch die befreiten Lager geführt. Außerdem wurden didaktische Serien in Zeitungen veröffentlicht, Poster mit Szenen aus den befreiten Lagern aufgehängt, Ausstellungen veranstaltet, Broschüren verteilt, besondere Radiosendungen ausgestrahlt und Filme gezeigt. Die Alliierten, die die abscheulichen Szenen in den KZs bei der Befreiung als Dauerzustand sich vorstellten, waren überzeugt davon, daß die Deutschen schon viel früher von diesen Zuständen Kenntnis gehabt hatten. In Bergen-Belsen errichteten die Briten ein großes Schild am ehemaligen Lagereingang, das in der englischen Fassung das "berüchtigte" (infamous) Konzentrationslager Belsen ankündigte, in der deutschen jedoch das "wohlbekannte" Lager - ein Indiz dafür, daß die Alliierten die deutsche Behauptung, eine abweichende Vorstellung von den KZs gehabt zu haben, durch den Nachweis vor Ort zu widerlegen trachteten.

Im Juli 1945 wurde das befreite KZ Dachau in ein "Prisoner of War Enclosure" für deutsche Kriegsgefangene umgewandelt. Das eigentliche KZ, das Schutzhaftlager (im Gegensatz zu dem wesentlich größeren Bereich der SS-Kaserne), wurde "SS-Compound". Dort wurden bis Jahresende 1945 ca. 25,000 SS-Männer eingesperrt. Parallel zum Nürnberger Prozeß begann am 15. November ein Prozeß gegen 40 Männer der Lagerverwaltung im Wirtschaftsgebäude des ehem. KZs Dachau. Zur propagandistischen Begleitung dieses Prozesses wurde im Dachauer Krematorium eine Ausstellung von ehemaligen Häftlingen mit Beteiligung der US-Armee eingerichtet.

Das parkähnliche Ambiente des Krematoriums stand in starkem Kontrast zu den Veranschaulichungen der unmittelbaren Brutalität des Lageralltags im Inneren. Mittels Puppen wurden beispielsweise 'Pfahlhängen' und die Prügelstrafe demonstriert. Zweck dieser Ausstellung war, das harte Vorgehen gegen die Angeklagten zu legitimieren; kein Versuch wurde unternommen, den Holocaust als System zu begreifen. Weder der politische Terror noch die Mordindustrie wurden dargestellt, nur der bestiale Sadismus. Auf einem Schild draußen wurde auf die Einäscherung von 238.000 Menschen hingewiesen. Das Schild belegt das Beharren auf die Vorstellung vom KZ als Leichenfabrik: es hing wahrscheinlich einige Jahre, obwohl die korrektere Zahl von 32.000 Todesfällen schon am Anfang des ersten Dachauer Prozesses im November 1945 herauskam und in einer Schlagzeile der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht wurde.

2) Das Bild der sauberen KZs, 1949ff.

Als die westlichen Alliierten die Westdeutschen als Verbündete im Systemkonflikt zu mobilisieren suchten, wurde die Durchsetzung ihrer Holocaust-Vorstellung unzweckmäßig. So erhielten deutsche Stellen mit dem rapiden Abzug der Amerikaner aus dem Dachauer Häftlingslager die Möglichkeit, ihre Vergangenheitsvorstellung zu verwirklichen.

Es gibt zahlreiche Zeugnisse dafür, daß das offiziell vermittelte Bild der KZs nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten eins von Sauberkeit und Ordnung war. Stellvertretend zitiere ich einen Artikel der Münchner Illustrierten Zeitung von Juli 1933 mit dem Titel "Die Wahrheit über Dachau":

"Volksgenossen, die artfremden Verführern zum Opfer fielen und Wegbereiter des bolschewistischen Kommunismus in Deutschland waren und sein wollten, werden durch die heilende Wirkung produktiver Arbeit und straffer Disziplin zu brauchbaren Mitgliedern des nationalsozialistischen Staates erzogen."

Obwohl die offene Propaganda recht bald fast keine Informationen mehr über die KZs verbreitete, war die Auffassung von KZs als "Arbeitserziehungslager" zumindest in der Sphäre öffentlicher Kommunikation etabliert. Inzwischen darf es als selbstverständlich gelten, daß breite Kreise der Bevölkerung lange vor Kriegsende eine ganz andere Wahrheit zumindest ahnten, aber insbesondere angesichts der massiven Vorwürfe der Alliierten sich an dieses Nazi Propaganda-Image als Strohhalm der Entlastung klammerten.

Alsbald versuchten westdeutsche Politiker die ehemaligen KZs in Musterlager zu verwandeln. In Bayern verabschiedeten alle Landtagsparteien im Januar 1948 einstimmig den Beschluß,

"mit der Militärregierung umgehend Verhandlungen aufzunehmen, um auf dem schnellsten Wege Lagerobjekte - insbesondere Dachau - freizubekommen zur Errichtung von Arbeitslagern für asoziale Elemente."

Dabei sollte die Staatsregierung die

"Bedeutung der Arbeitslager als Stätten der Umerziehung von arbeitsscheuen Elementen zu willig arbeitenden Menschen"

ausdrücklich hervorheben. In Neuengamme wurde das KZ tatsächlich in eine, wie es in der zeitgenössischen Begründung der Gefängnisbehörde hieß, "mustergültige" Erziehungsvollzugsanstalt umgewandelt.

Nach der Währungsreform im Sommer 1948 lagen die Prioritäten jedoch anders: Kein Arbeitserziehungslager wurde geschaffen, sondern das KZ Dachau wurde, wie viele andere Lager aller Art in den Westzonen, in ein Wohnlager umgewandelt, um Flüchtlinge aus dem Osten aufzunehmen. Für die enorme Summe von über 5 Millionen DM wurde die "Wohnsiedlung Dachau-Ost" im Winter 1948/49 geschaffen. In den folgenden Jahren wurden im Lagerbereich Industrien angesiedelt, z.B. eine Färberei, ein Lederveredelungsbetrieb, Nudel- und Strumpffabriken und eine Holzwerkstatt. In die Baracken wurden nicht nur Wohnungen für 400 Familien und 200 Ledige eingebaut, sondern auch Geschäfte, Gaststätten, ein Kino, eine Schule und ein Kindergarten. Die Lagerstraße wurde geteert, eine Buslinie in die Stadt Dachau eingerichtet, und die Wasser- und Stromversorgung erneuert. Es gab auch ein Siedlungseigenes heizkraftwerk und katholische und evangelische Kirchen. In der ehemaligen Entlausung (an der Stelle der heutigen jüdischen Gedenkstätte am Nordende des Lagers) gab es eine Gaststätte, die übrigens 1961 vom neuen Wirt in "Gaststätte zum Krematorium" umgetauft wurde. Nach und nach wurden die Umfassungsmauer und die Umzäunung entfernt und mit dem Abriß der Wachtürme begonnen.

Während die eigentlichen Überreste des KZs zu einer "sauberen" Wohnsiedlung umgebaut wurden, sollte das Andenken an die KZ-Zeit explizit durch Denkmale fortgesetzt werden. Die KZ-Denkmale, die in dieser Zeit von Deutschen (z.T. auf alliiertem Geheiß) vorgeschlagen und verwirklicht wurden, spiegeln die Vorstellung des ordentlichen KZs wider: ein für Dachau vorgesehenes Denkmalsmodell von November 1945 (30m hoher Monumentalbau mit bekrönendem Goldmosaik), wie auch das im April 1950 eingeweihte Denkmal des "unbekannten Häftlings" von Fritz Koelle (unterlebensgroßer, auf hohem Sockel stehender KZ­Überlebender, glatt und säuberlich umhüllt von den Falten seines Mantels). Ähnlich wurde 1952-53 in Neuengamme eine schlichte, 7m hohe Säule errichtet - das denkbar einfachste Gedenkzeichen.

In Dachau wäre die öffentliche Erinnerung an das "dreckige" KZ in dieser Zeit vielleicht sanft entschlummert, wenn nicht ein Bagger, der in der Nähe des KZs nach Sand grub, im Sommer 1949 ein Gemeinschaftsgrab mit ca. 20 Skeletten aufgedeckt hätte. Obwohl sich später herausstellte, daß das Grab in keinem Zusammenhang mit dem KZ stand, wurde gleichzeitig entdeckt, daß unmittelbar benachbarte Massengräber von über 6000 KZ-Häftlingen zumindest vergessen, wenn nicht absichtlich vernachlässigt worden waren. Eine internationale Öffentlichkeit verfolgte den Vorfall mit Empörung. Um vom Vorwurf der Vernachlässigung abzulenken, ließ der bayerische Staat die Massengräber mit großem Aufwand zu einem Friedhof mit einer Gedenkhalle ausgestalten. Zugleich wurden alle ca. 400 bayerischen KZ-Grabstätten überprüft und neugestaltet.

Zur weiteren Besänftigung der kritischen Stimmen des Auslands wurde im Sommer 1950 die Ausstellung im Krematorium auf Staatskosten renoviert: die Puppen wurden entfernt, und stattdessen Dokumente und Übersichten ausgestellt, wie beispielsweise eine Farbtafel mit den KZ-Winkeln, eine Übersichtskarte der KZs in Europa, und eine Graphik der Dachauer Häftlingszahlen. Ein Schillerzitat diente als Ausstellungsmotto:

Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben,
Bewahret sie!
Sie sinkt mit euch!
Mit euch wird sie sich heben!

Diese zweite Ausstellung war ein Schritt in Richtung einer Versachlichung der Vermittlung der KZ-Erfahrung; die Darstellung des Systems der Konzentrationslager und seiner zeitlichen Entwicklung ist als Anliegen deutlich sichtbar. Diese Ausstellung währte jedoch nicht lange, stand sie doch im krassem Gegensatz zur Tendenz der Bereinigung der KZ-Vergangenheit.

Die ehemaligen Häftlinge, die stärksten Befürwörter der Ausstellung, standen, nachdem sich das internationale Interesse abgewandt hat, allein da. Ihre Stellung in der bundesdeutschen Öffentlichkeit schwand rapide dahin. Während eine gewaltige Renazifizierung der Staatsämter stattfand (1951 waren beispielsweise 94% der bayerischen Richter und Staatsanwälte, 77% aller Angestellten der Finanzbehörde und 60% des Landwirtschaftsministeriums ehemalige Nazi PGs.), wurden Häftlingsorganisationen wie die VVN und die Arbeitsgemeinschaft Dachau von der Münchner Polizei überwacht und schikaniert. Zu der heilen Welt der "Wohnsiedlung Dachau-Ost" paßte die Ausstellung überhaupt nicht; die ersten Bemühungen, sie zu entfernen, ließen nicht lange auf sich warten.

1952 fand eine Medienkampagne gegen die Ausstellung statt, und nachdem die Gedenkveranstaltungen zum Befreiungstag im April 1953 ohne öffentliche Resonanz vergangen waren, ließ die Finanzbehörde die Ausstellung im Mai 1953 in einer Blitzaktion räumen und den Verkauf von Broschüren und Postkarten über das KZ Dachau verbieten. Die behördliche Antwort auf eine offizielle französische Anfrage nach den Gründen für die Räumung bietet einen Einblick in die dahinterstehende Vorstellung vom ehrenhaften KZ. Nach Anweisung aus der Staatskanzlei teilte das Finanzministerium mit, es habe sich um eine Ausstellung gehandelt,

"die im ehemaligen Krematorium von einem früheren Lagerhäftling ohne Genehmigung eingerichtet worden war. [Aber wohl auf Veranlassung und mit Geldern des Staates!] Diese Ausstellung wurde nach übereinstimmender Auffassung der zuständigen Stellen [!] durch die Art ihrer Darbietung dem von den Lagerhäftlingen gebrachten Opfer in keiner Weise gerecht."

Die Entfernung der Ausstellung scheint dem Verlangen nach einer unbefleckten Erinnerung nicht genügt zu haben. Im Juli 1955 beantragte der Dachauer Landtagsabgeordnete die Schließung des Krematoriums. Da internationale Verträge die Unantastbarkeit von Grabstätten festgelegt hatten (eine Folge des Skandals um die Leiten-Gräber), durften deutsche Stellen die Schließung nicht verfügen, und der Antrag wurde zurückgezogen. Kurze Zeit später ließ der Dachauer Landrat jedoch sämtliche Wegweiser zur Gedenkstätte entfernen, wie auch die Originalbeschriftung "Brausebad" an der Gaskammer und andere Originalaufschriften im Krematorium (wie etwa "Gaszeit" an den Türen der Entlausungskammern).

3) Die ehemaligen Häftlinge, 1960-70

In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre fing das Pendel der KZ-Erinnerung an, in die andere Richtung zu schwingen. Eine jüngere Generation Deutscher begann sich für die "dreckige" Geschichte des KZ-Systems zu interessierten. Filme, Hörspiele und Bücher wie Alain Resnais' "Nacht und Nebel", "Das Tagebuch der Anne Frank," und Erwin Leisers "Mein Kampf" trugen dazu bei. Ende der 50er Jahre pilgerten Scharen von Jugendlichen, aufgewühlt von ausländischen Zeitungsberichten über die Verwahrlosung der Gedenkstätte in Belsen, dorthin, um die Anlage instandzusetzen und ihre Betroffenheit zum Ausdruck zu bringen.

Gleichzeitig verzeichneten die ehemaligen Häftlinge erste Erfolge in ihrem Versuch, sich durch internationalen Rückhalt gegen die Ausgrenzung und Diffamierung in der Bundesrepublik zu wehren. Forschungsprojekte, die auf einem großen Treffen im April 1948 in Buchenwald begonnen wurden, aber wegen der erneuten Diskriminierung und Verfolgung nicht verwirklicht werden konnten, wurden ab 1955 wieder in Angriff genommen. Als Lobby für die Schaffung einer Gedenkstätte in Dachau wurde das internationale Häftlingskomitee der Lagerzeit 1956 wieder ins Leben gerufen.

Als Beispiel für die Haltung, gegen die diese Gruppe ankämpfen mußte, zitiere ich eine Postwurfsendung, die 1955 von der bundesdeutschen Dachaugemeinschaft an alle Haushalte in Dachau geschickt wurde. Man beachte den Kontrast zwischen dem "dreckigen" und dem "sauberen" KZ:

"Liebe Dachauer Bürgerinnen und Bürger!
Für viele, die Ihre aufstrebende Stadt am Rande Münchens nicht kennen, hat Dachau immer noch einen schrecklichen Klang. [Jene] wissen nichts von den Naturschönheiten, die Ihre alte bayerische Stadt umgeben, daß ein Ludwig Thoma hier gelebt und viele seiner Werke geschaffen hat. Für sie ist Dachau immer noch untrennbar verbunden mit dem Nazi-Konzentrationslager, das hier von 1933-45 aufrechte Deutsche und Menschen aller europäischen Nationen hinter seinen elektrisch geladenen Zäunen gefangen hielt.
Erst als 1945 die Stunde der Befreiung für die Häftlinge schlug, haben Sie den ganzen Umfang des Schreckens, des Grauens und des Todes erkennen können. Dankbar gedenken heute noch viele ehemalige Häftlinge der Hilfe, die ihnen von Bürgern Ihrer Stadt während der Jahre der Unterdrückung gegeben wurde..."

Unterschiedliche Gruppen ehemaliger Häftlinge hatten unterschiedliche Vorstellungen von der KZ-Vergangenheit, an die zu erinnern war. Insbesondere sind zu nennen: deutsche und ausländische politische Häftlinge, sowie katholische, evangelische und jüdische Gruppen. Die politischen Häftlinge hatten eine klare Vorstellung von dem System der KZs im Reichsgebiet, aber die Ausmaße des fabrikmäßigen Massenmords war ihnen zunächst nicht voll bewußt. Wie bereits 1957 beim sogenannten Ulmer Einsatzgruppenprozeß, ging 1961 vom Eichmann-Prozeß in Jerusalem eine schockwellenartige aufklärerische Wirkung aus. Auch die ehemaligen politischen Häftlinge wurden dadurch für die Geschichte des Holocaust im engeren Sinne sensibilisiert, für diese weitere Dimension der "dreckigen" Seite der KZ/Vernichtungslager. Die Lagergemeinschaft Dachau machte dazu eine Dokumentarausstellung in München. Die Frankfurter Auschwitz-Prozesse 1964 gaben wiederum einen kräftigen Impuls, sich mit der geplanten Ausrottung aller europäischen Juden zu befassen.

Der Bewußtseinswandel der ehemaligen Häftlinge läßt sich in Dachau zeitlich ziemlich genau eingrenzen, denn im Sommer 1960 wurde eine vorläufige Ausstellung im Krematorium eingerichtet. Darin fehlte der Holocaust, verstanden als die fabrikmäßige Menschenvernichtung. Ein weiterer Schritt der Versachlichung und Verwissenschaftlichung gegenüber der Ausstellung von 1950 wurde jedoch getan. Beispielsweise wurde eine Häftlingsuniform in eine Vitrine gehängt und maßstabgetreue Lagermodelle angefertigt. Jede Aussage über das Lager wurde durch Kopien von Originaldokumenten belegt. In jedem Bereich des Krematoriumgebäudes wurden erklärende Hinweistafeln aufgestellt. Aber dieses Bemühen um Reduktion auf das unanfechtbar Belegte konnte auch ein schiefes Bild vermitteln.

Die Originalaufschrift "Brausebad" über der Tür zur Gaskammer wurde mit folgendem Text kommentiert:

"Dieser Raum wäre als Auskleide- und Warteraum verwendet worden, wenn die Gaskammer funktioniert hätte. Die Aufschrift 'Brausebad' diente zur Täuschung der Häftlinge." [Hervorhebung hm]

Das war aber eine Untertreibung: die Gaskammer war in der Tat lange vor Kriegsende voll funktionsfähig, sie wurde aus nicht endgültig geklärten Gründen aber nicht in Betrieb genommen (evtl. weil die Sterblichkeit aufgrund von Epidemien schon so hoch war, daß man die Menschen nicht mehr im großen Stil vorsätzlich töten mußte). Außerdem konnte man das Krematorium im Winter 1944/45 wegen Brennstoffmangel sowieso nicht betreiben, so daß ohnehin viel zu viele Leichen anfielen. Jener Kommentar war jedoch eine defensive Antwort auf die heute noch in gewissen Kreisen vielbeschworene "Gaskammerlüge" von Dachau, nämlich daß das neue Krematorium mit den Gas- und Leichenkammern in Dachau von deutschen Kriegsgefangenen auf Befehl der US-Armee erst nach dem Krieg erbaut wurde.

Diese Behauptung stellt die auf die Spitze getriebene Formulierung der Vorstellung vom "sauberen KZ" dar. Sie findet sich jedoch nicht nur im rechtsapologetischen Kreis um die "Deutsche National- und Soldaten-Zeitung"; Aussagen von älteren Deutschen (insbesondere der Jahrgänge vor ca. 1915) deuten darauf hin, daß nicht wenige davon überzeugt sind, daß die Leichenberge in den KZs v.a. wegen dem von den Alliierten verursachten Versorgungs- und Transportkollaps gegen Kriegsende, sowie durch alliierte Luftangriffe entstanden seien. Davor, so wird "erinnert", sei es in den KZs zwar schlimm gewesen, aber zu "Derartigem" sei es nicht gekommen. Aus diesem Körnchen verzerrter Wahrheit wird dann das ganze Rechtfertigungsgebäude der Nachkriegszeit aufgebaut, das eine Wurzel der Überrest-armen Topographien bundesdeutscher Gedenkstätten darstellt. [Nestbeschmutzungsvorwurf]

Eine neue Museumskonzeption wurde in den Jahren nach 1962 mit Hilfe jüngerer deutscher PädagogInnen erarbeitet. Im Mai 1963 wurde Sinn und Zweck des zu gestaltenden Museums wie folgt formuliert:

"Das Museum im ehemaligen KZ-Dachau soll der Aufgabe dienen, einem möglichst weiten Besucherkreis ein realistisches und in jeder Beziehung wahrheitsgetreues Bild aller Geschehnisse, die sich in diesem Lager abspielten, zu vermitteln. Darüber hinaus muß die Ausstellung aufzeigen, wie sich dieses mörderische System entwickeln und ausbreiten konnte." [Hervorhebung hm]

Diese neue Ausstellung wurde 1965 eröffnet; sie besteht heute noch fast unverändert. Sie hat vier Hauptabteilungen:
-Die Vorgeschichte bis zur Machtübernahme
-Das Konzentrationslager Dachau
-Die Vernichtung; darin ein umfangreicher Abschnitt "Die Endlösung der Judenfrage" (setzt 1941 ein)
-Das Ende der Konzentrationslager (über die Evakuierungen und Befreiung).

In dieser Konzeption sollte das Lager möglichst im Originalzustand konserviert werden, doch die Eingriffe in die Bausubstanz bei der Einrichtung des Wohnlagers, z.B. die Innen- und Außenverkleidung der Baracken, waren nicht mehr rückgängig zu machen. Staatliche Denkmalspfleger, vermutlich immer noch an die "saubere" Seite der KZs denkend, konnten die ehemaligen Häftlinge überreden, sämtliche Bauten des Schutzhaftlagers (außer den noch stehenden Wachtürmen und dem Wirtschaftsgebäude am Südende) abreißen zu lassen, und zwei Baracken am Südende neu zu errichten. Aus diesem Kahlschlag resultierten die heutigen sogenannten Barackenfundamente: die Umrisse der unfundamentierten Baracken wurden 1964-65 in Beton nachgegossen. Und die zwei Baracken am Südende des Lagers wurden in vereinfachter Form auf Betonplatten nachgebaut. Nichts weist darauf hin, daß diese Baracken ursprünglich keine Unterkunftsbaracken waren, sondern einen Teil des Reviers bzw. die Lagerkantine beherbergten.

Die Komplexität und Normalität des KZs, eben das, was es anschaulich machen könnte, wurde beseitigt zugunsten eines simplen, abstrakten Bildes. Es treffen sich in diesem didaktisch motivierten partiellen Nachbau des Lagers drei Vorstellungen vom "Holocaust". Einmal wird in den (im übrigen heute noch andauernden) Abrißarbeiten das Bemühen um die Säuberung der KZ-Geschichte von Hinweisen auf die schmutzige Geschichte offenbar. Und da fast jeder Hinweis auf das Geschehen in einem NS-Konzentrationslager irgendwie auf Schmutz hindeutet, führt dieses Bestreben in letzter Konsequenz zur völligen Beseitigung aller Überreste und Denkmale.

Zum Zweiten: Die vereinfachende Rekonstruktion und Konservierung nur ausgewählter Details zeugt von der undifferenzierten Vorstellung zu Kriegsende von primitiven, brutalen Leichenfabriken. Abgesehen vom Museumsgebäude, dessen Funktion in der Lagerzeit den meisten BesucherInnen verborgen bleiben dürfte, existieren als einprägsame historische Gebäude auf dem Lagergelände nur die Unterkunftsbaracke und das große Krematorium. Von der Pritsche in den Ofen? Nur die intellektuelle Auseinandersetzung mit den Texten im Museum vermag die dazwischenliegende Zeit mit Inhalt zu füllen. Im groben Langzeitgedächtnis speichert sich der Eindruck des Gedenkstättenbesuchs als eine Vorstellung vom KZ als kurzfristiger Folter- und Todesstätte.

Schließlich wird in dem Bemühen, die volle Komplexität der Lagerwirklichkeit wiedererstehen zu lassen, das Bild des mehrdimensionalen, "dreckigen" KZs sichtbar: Die vor wenigen Jahren auf dem kahlen Lagergelände aufgestellten Schautafeln mit Großfotos aus der Lagerzeit zeugen in ihrer Einsamkeit von dem noch begrenzten Erfolg dieser Tendenz. Führungen von Zeitzeugen oder ausgebildeten LehrerInnen, der Gedenkstättenfilm, das Museumskatalog, die Schriftenreihe und nicht zuletzt das Jugendbegegnungszeltlager in Dachau sind weitere Beispiele für dieses Bestreben, aber im Gegensatz zu einer reicheren Rekonstruktion des Lagers (sofern die Überreste schon entfernt wurden) vermögen sie nur, einen Bruchteil der BesucherInnen zu erreichen.

Doch die Gruppen, die an einem Gedenken in Dachau interessiert sind, sind vielfältig - nicht alle sind an historischer Aufklärung oder Erklärung interessiert. Das katholische Gedenken in Dachau ist auf das Jenseits ausgerichtet; es beachtet die quälenden Seiten des irdischen Daseins kaum. Folgerichtig tauchen nur die spärlichsten Hinweise auf den Holocaust auf. Innerhalb weniger Monate im Jahr 1960 ließ der ehemalige Dachau-"Sonder"-Häftling Weihbischof Neuhäusler die katholische "Todesangst-Christi-Kapelle" erbauen. Der schlichte Rundbau, dessen Außenhaut von im Fischgratmuster gelegtem glattem Isarkies gebildet wird, ragt in beherrschender Stellung am Nordende der Lagerstraße empor. Seine schützende Hülle öffnet sich zum Lager hin. Spärliche Überreste einer Grünanlage, ein Rasenstück und ein Kranz von Eichen, lassen kaum die Wirkung der ursprünglich geplanten Ausdehnung des Grüns auf das gesamte Lager ahnen. Die Ereignisse des Lagers sind in der künstlerischen Gestaltung weitestgehend ausgeblendet; im Andenken an die Passion des Herrn, der stilisiert am Kruzifix im Mittelpunkt schwebt, soll versöhnender Dienst an der göttlichen Vorsehung verrichtet werden.

Knapp hinter der Kapelle wird dieser Dienst Tag und Nacht verrichtet. Das 1962-63 erbaute katholische Karmelitinnenkloster wird durch ein Portal im angrenzenden KZ-Wachturm betreten. Die vielbeschworene "hermetische Abgeschlossenheit" des Lagers wird an der undurchdringlichsten Stelle aufgelöst. Die einzige Erinnerung an das ehemalige KZ sind einige in Schaukästen ausgestellte liturgische Geräte und Gewänder, die von inhaftierten Priestern verwendet wurden. Es sind dies vielleicht die einzigen Überreste, die derart von der Vielschichtigkeit des Lageralltags Zeugnis ablegen könnten. Doch durch die museale Präsentation und die Kontextlosigkeit werden sie ihrer Kraft beraubt.

Auch auf dem Leitenberg zeigt sich die Vergangenheitslosigkeit des katholisch geprägten Gedenkens. Obwohl Menschen jüdischen Glaubens die Mehrzahl der dort Verscharrten und Begrabenen ausmachen durften (viele der bei der Befreiung vorgefundenen Toten waren aus anderen Lagern evakuierte Juden), steht das katholische Gedenken auffallend im Vordergrund. Der Weg vom Parkplatz hinauf führt an 14 Kreuzwegstationen vorbei, die die KZ-Marter mit der Passion Jesu verquicken. In der Friedhofsanlage steht ein Hochkreuz im Mittelpunkt, dessen Reliefs christliche Martyriumsszenen wiedergeben. Dagegen ist der bemooste jüdische Gedenkstein an einer unscheinbaren Stelle versteckt. Auch die 1957-63 errichtete italienische Mini-Kuppelkapelle auf einer westlichen Anhöhe neben der Anlage dient der katholischen Totenehrung. Als einzige Anomalie zur messianisch überhöhten Vereinnahmung steht als Pendant auf dem Osthang ein urwüchsig-germanischer Achteckbau (vgl. Aachen, Castel del Monte, Tannenberg, Annaberg, El Alamain) aus einheimischem Nagelfluh (die Italiener bauten aus Carrera-Marmor), dessen düsteres Inneres mit den Wappen der Nationen und einem bronzenen Taufbecken ausgestattet ist; bronzene Fackelhalter in den Ecken können ggf. für kultische Beleuchtung sorgen.

Östlich der katholischen Kapelle im Lager steht eine jüdische Gedenkstätte (1964-67 erbaut). Der Bau sollte ausdrücklich keine Synagoge sein, denn nach jüdischer Auffassung sei es ein Ding der Unmöglichkeit, an solch gottverlassenem Ort ein Gotteshaus zu errichten. Der im Grundriß bogig keilförmige Bau schirmt sich durch die Dachschräge gegen das Lager ab. Seine Gestalt nimmt ikonographisch Bezug auf den Holocaust: Eine Rampe, ähnlich der Selektionsrampe in Birkenau, führt hinunter in die gruftähnliche Kammer. Der Weg ist gesäumt von stilisiertem Stacheldrahtgeflecht; ein bewehrtes Gitter verweigert dem Herantretenden Einlaß. Im rückwärtigen Scheitel führt ein heller Marmorstreifen empor zu einer lichtdurchfluteten Öffnung: der einzig vorgesehene Ausgang für Juden aus einem Nazilager war der Schornstein des Krematoriums. Der abschirmende, eingekapselte, isolierte Bau repräsentiert das jüdische Gedenken in Dachau: keine Fragen, keine Antworten, bewußte Abstinenz von Sinngebung, nur der Schmerz der Erinnerung.

Ganz anders dagegen ist die Gedenkkonzeption der ebenfalls 1964-67 erbauten evangelischen Versöhnungskirche. Den von der Lagerstraße Kommenden öffnet sich eine weite Treppenanlage, die einladend in die Tiefe führt. Keine aufragende Überhöhung des Lagerleidens wie im katholischen Bau soll hier stattfinden, sondern Einkehr in eine introspektive Reflexion. Eintretende Besucher werden in einen geschlossenen Innenhof geführt, der zwischen einem etwas tieferliegenden Sammlungs- und Gesprächsraum links und dem kargen Kirchenraum rechts vermittelt. Der Ausgang führt durch die Kirche hinauf durch einen schmalen Betongang. Der Rundgang führt dann unmittelbar weiter zum Krematorium.

Von Anfang an wurde hier ein Dienst am Menschen vorgesehen: Ein hauptamtlicher Geistlicher ist der Kirche zugeteilt, und freiwillig arbeitende Jugendliche der Aktion Sühnezeichen, die schon beim Bau der Kirche mithalfen, ermöglichen eine ganzjährige Besucherbetreuung mit Gedenk- und Bildungsveranstaltungen. Im Gegensatz zur Gloria Dei der Katholiken und dem blanken, hoffnungs- und sinnlosen Schmerz der Juden wird hier im Verständnis des Evangeliums mit der Macht des Wortes versucht, Wissen um und Erfahrung vom KZ-Geschehen zu vermitteln.

Als jüngstes Werk der monumentalen Gedenkkunst im Lager zeigt sich das internationale Mahnmal am Rande des Appellplatzes am entgegengesetzten Südende des Lagers. Obwohl es erst im September 1968 eingeweiht wurde, wurde der Entwurf schon 1959 von Albert Guérisse, einem belgischen ehemaligen Häftling, der ein führendes Mitglied der Résistance war und später eine höhere Stellung in der NATO innehatte, gegen die Bedenken der deutschen Häftlinge durchgesetzt. Jene meinten, das filigran in Bronze gegossene Menschengemetzel stelle nur das Leiden im Lager dar ("dreckiges KZ"); sie wollten auch ein Symbol der Häftlingssolidarität und des Widerstands gegen eben diese Reduktion auf namenlose, entpersonalisierte Leichen.

Als Kompromiß zur Veranschaulichung der internationalen Solidarität der Häftlingsgruppen wurde ein Kettenrelief mit verschiedenfarbigen KZ-Winkeln in der Sockelanlage montiert. Dabei fehlen jedoch einige der von der SS zur Kategorisierung der Häftlinge verwendeten Farben: das Grün der "Berufsverbrecher" oder Kriminellen, das Rosa der Homosexuellen, das Schwarz der "Asozialen" - die oft willkürlich gewählten Stigma der SS wurden übernommen, die damalige Ausgrenzung symbolisch fortgesetzt. Es ist fraglich, ob ein Denkmal überhaupt in der Weise differenzieren kann, doch wird dabei der nachträglichen Pauschalisierung der Vergangenheit Vorschub geleistet.

Ein letztes Beispiel aus dieser Zeit soll belegen, daß die Vergangenheit der KZ-Orte durchaus kein Stigma war in den Augen derer, die der Vorstellung vom sauberen KZ anhingen. Das Schutzhaftlager machte nur etwa 1/5 der Gesamtanlage des KZs Dachau aus. Der größere Teil beherbergte die SS-Wachmannschaften und zwei SS Kampfeinheiten, sowie einige große Versorgungsbetriebe für die SS Truppen (z.B. Deutsche Ausrüstungswerke). Von 1945 bis 1971 benutzte die US-Armee diese KZ-Anlagen für ähnliche Zwecke. Als das Gelände dann an die Bundesrepublik zurückgegeben wurde, ergriffen die bayerischen Behörden die ideale Gelegenheit, dort eine Einheit der Bereitschaftspolizei zu stationieren. (Übrigens hatten Bereitschaftspolizisten schon im Frühjahr 1933 für die SS Wachen in Dachau gekocht und geputzt.)

Daß die Lagergeschichte die Seelen der Verantwortlichen in keiner Weise belastete, wird anhand zweier Ereignisse des Jahres 1981 klar. Einmal übte die Bereitschaftspolizei Häuserräumungen mit in der Gedenkstätte vernehmbaren Lautsprecheransagen; kurze Zeit später führte sie das für den Kriegsgebrauch geächtete Erstickungstränengas "CS" ebenfalls im ehemaligen SS-Lagerbereich vor. Als die nationalen Medien solche Insensibilität monierten, antwortete der Polizeichef entlarvend, kein Mensch habe an die Bedeutung und Geschichte des KZs gedacht.

Zehn Jahre später sind wir vielleicht etwas sensibler geworden, z.B. wenn die Hamburger Innenbehörde unter dem Druck der Öffentlichkeit die geplante Gefängniserweiterung auf dem Schutzhaftlagergelände in Neuengamme unterläßt, oder wenn der Bau eines Lebensmittelgeschäfts auf einem Teil des Ravensbrücker Lagergeländes durch öffentliche Empörung verhindert wird.

4) Nachkriegsgenerationen, ab 1970

Eingangs habe ich erwähnt, daß seit etwa 1970 eine neue Generation mit einer mehrdimensionalen Vorstellung vom Holocaust versucht, den Kampf der ehemaligen Häftlinge gegen das Bild des sauberen KZs fortzusetzen. Eine Graphik der Dachauer Besucherzahlen zeigt einen Anstieg der deutschen Besucherzahlen ab 1973, die v.a. durch eine überproportionale Zunahme der Anzahl von Schulklassen und Jugendgruppen bedingt ist. Zwischen 1973 und 1979 kletterte diese Ziffer von 500 auf über 5000 jährlich. Es ist in diesem Zusammenhang unwichtig, ob die Schüler selbst oder ob ihre LehrerInnen diese Fahrten initiierten, und wie tief der hinterlassene Eindruck war; Tatsache bleibt, daß allerwenigstens die Existenz der Gedenkstätte und des Holocaust fest im Bewußtsein eines breiten Publikums verankert ist.

Die erste größere gedenkstättenbezogene Initiative von Jugendlichen fand im Jahr 1970 statt. Im Vorfeld der Münchener Olympiade 1972 schlugen die Dachauer Jungsozialisten dem Stadtrat einen 7-Punkte-Plan vor, in dem sie pädagogische und didaktische Maßnahmen forderten, wie etwa eine wissenschaftliche Dokumentation der Lagergeschichte, eine Jugendbegegnungstätte und eine hauptamtliche BetreuerIn für Besucher.

Seitdem befaßte man sich v.a. mit der Verbesserung der didaktischen Einrichtung und der pädagogischen Betreuung in der Gedenkstätte:
1978 wurde der Katalog zur Ausstellung fertiggestellt;
1979 begannen Freiwillige der Aktion Sühnezeichen, regelmäßig im Lager zu arbeiten;
1980 nahmen das katholische "Dachauer Forum" und der eingetragene Verein "Zum Beispiel Dachau" gedenkstättenbezogene Arbeit auf;
ebenfalls 1980 wurden drei Lehrer vom bayerischen Kultusministerium zum Dienst in der Gedenkstätte abgestellt; bis 1987 stieg ihre Zahl auf 9.
Seit 1983 wird jährlich ein internationales Jugendbegegnungszeltlager veranstaltet;
1984 schlossen sich verschiedene Trägergruppen zusammen, um einen Förderverein zur Durchsetzung und Betreuung einer Jugendbegnungsstätte gegen staatlichen Widerstand zu bilden.

Im Jahre 1990 unterscheiden sich die Nestbeschmutzungsargumente vieler saubermännischer Politiker nur wenig von denen der 50er und 60er Jahre; ich werde nicht gesondert auf sie eingehen. Trotz der soeben aufgelisteten Fortschritte in Richtung der Veranschaulichung einer mehrdimensionalen Vergangenheit ist das Tauziehen zwischen den Befürwörtern aufklärender Erinnerung und den Verfechtern der sauberen Vergangenheit keineswegs vorbei. Davon legt der Wahlerfolg der "Republikaner" in den Dachauer Gemeindewahlen Zeugnis ab: mit der Forderung des Gedenkstättenabrisses ergatterten sie 1989 ein gutes Fünftel der Stimmen. Auf nationaler Ebene wären der sogenannte Historikerstreit (1986ff.) und das geplante nationale Opfermal in Bonn (1983-88) zu nennen: ersterer kann als Versuch gewertet werden, die öffentlichen Vorstellungen vom Holocaust zu "säubern"; letzteres ist beispielhaft für die nivellierenden Gedenk-Gegenentwürfe jenes Erinnerungslagers.

Wenn man die mehrdimensionale, "dreckige" Vergangenheit nicht als Schmutz auf der eigenen Weste begreift, sondern als Chance, um den Philosophen Karl-Otto Apel zu zitieren, "etwas Besonderes aus der nationalen Katastrophe" zu lernen, dann müßte man an den Tat- und Lernorten der Vergangenheit die Komplexität der Vergangenheit plastisch wiederauferstehen lassen. Echte historische Aufklärung kann mit eindimensionalen Vorstellungen, seien sie "dreckig" oder "sauber", beginnen, aber die Gefahr ist groß, daß der Aufklärungsprozeß dann in eine Sackgasse gerät. Sofern die Orte der Vergangenheit schon von unliebsamen Relikten bereinigt worden sind, dann ist eine bis in die relevante Details korrekte Rekonstruktion wünschenswert und notwendig, um die willkürliche 'Auffüllung der Erinnerung, Prägung der Begriffe, und Deutung der Vergangenheit' im Interesse der Tagespolitik vorzubeugen, wie es Regierungshistoriker Michael Stürmer jüngst vorgeschlagen hat.


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