SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 200x (to Anders Links Page; Günther Anders Main Page)

Narziss oder Narr?

Günther Anders im Spiegel seiner Verehrer und Verächter

Rezension von ALEXANDER KISSLER

Dirk Röpcke & Raimund Bahr (Hg.): Geheimagent der Masseneremiten - Günther Anders

Im hohen Alter hielt sich der vor hundert Jahren und vier Monaten geborene, vor zehn Jahren gestorbene Günther Anders für den „international namhaftesten österreichischen Juden" nach Bruno Kreisky und Simon Wiesenthal. Dem eigenen Vater hingegen, dem Entwicklungspsychologen Wilhelm Stern, der alles daran gesetzt hatte, ein guter, unauffälliger Deutscher zu sein, warf er vor, ein bloßer Epigone gewesen zu sein: „Du bist einer. Ich bin hundert. / Aber ich, in jeder Stunde, / wechsle Herkunft und Gesicht. / Heute heiß ich wie der eine / morgen wie der andre hieß. " Also wurde aus Günther Stern Günther Anders, ein Märchenerzähler und Kulturtheoretiker, Aphoristiker und Atomgegner, Tagebuchschreiber und Medienkritiker, der sich über alle Versuche, dem Dasein Sinn abzugewinnen, herrlich aufregen konnte: „Schon der Ausdruck ,Ursprung‘ bringt mich zur Raserei. Aus der Fremde habe ich meine Kräfte gezogen." Auch darum zerstreute er in aberhundert Seinsweisen sein launisches, ortloses Ich, das ihm nur so zu bändigen schien.

Welche Spuren aber hat dieser Wille zur Dissoziation im Werk und im Leben hinterlassen? Oder ist die als Folge solch fortwährender Grenzüberschreitung beklagte Außenseiterrolle nur Mimikry, und entspricht eher die Pose des bedeutsamen jüdischen Repräsentanten Anders’ narzisstischem Selbstbild? Die erste Veröffentlichung des 1999 in Wien gegründeten Günther- Anders-Forums, kurz: GAF, versammelt neun Beiträge, die fast die ganze Bandbreite der denkbaren Zugänge abbilden.

Raimund Bahr, der Leiter des GAF, spürt dem „beinahe unbemerkten Leben" nach, das der „beinahe unbesprochene" Anders bis zu seiner Emigration 1936 und nach seiner Rückkehr 1950 in Wien führte. Nur dort, wo „das Ego der Angelpunkt des Denkens und Handelns" ist, habe Anders seine Theorie vom unvollständigen, mit sich selbst nicht identischen Menschen entwickeln können. Mitherausgeber Dirk Röpcke spricht hingegen von Anders als einem „Mensch der Öffentlichkeit, auch in Wien". Stefan Broniowski geht noch einen Schritt weiter und erklärt das vermeintliche Eremitentum zum Mythos. Anders werde heute genauso wie zu Lebzeiten viel gelesen und oft zitiert, er war und sei eine populäre Figur. In der Tat sprechen die zahlreichen Preise, die der „Gelegenheitsphilosoph" erhielt und manchmal auch annahm, gegen eine isolierte Existenz am Rande.

Im übrigen lässt Broniowski kein gutes Haar am sonst reihum und besonders eindringlich von Konrad-Paul Liessmann gelobten Jubilar. Ein Ignorant voll „lächerlicher Selbstvergottung" sei Anders gewesen, unphilosophisch bis ins Mark, beherrscht habe er einzig die „moralische Erpressung" nach dem Motto: „Wer mir nicht zustimmt, ist ein schlechter Mensch. " Immerhin kann Broniowski als Kronzeugen für seine Aversion Umberto Eco aufbieten, der Anders den egozentrischen, letztlich interesselosen Apokalyptikern zurechnet.

Wer sich - so lautet das Fazit dieser ... Aufsätze - die Sache Anders’ ganz zu eigen macht, der landet unweigerlich bei der Polemik. Dirk Röpcke warnt davor, die gegenwärtigen Barbarisierungsprozesse durch positives Denken zu leugnen. Er wettert ganz im Sinne des Geehrten gegen den „Technofaschismus" der Befürworter gentechnischer Experimente, gegen den „Rassismus", der sich hinter dem „scheinbar toleranten Ethnopluralismus" verberge und gegen die seiner Auffassung nach größenwahnsinnigen Antonio Negri und Michael Hardt, die sich in ihrem „Empire"-Buch aus Angst vor der Apokalypse absichtsvoll selbst mit Blindheit schlügen. Dirk Röpcke ist somit erster Anwärter auf den Günther- Anders-Gedächtnispokal. Diesen erhält, wer die Lebensmaxime des international namhaftesten österreichischen Polemikers am effektvollsten variiert: „Hoffnung ist ein anderes Wort für Feigheit."


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