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Harold Marcuse
published in Archiv für Sozialgeschichte, 36(1996), 777-9. |
Harold Marcuse, Rezension für Archiv für Sozialgeschichte, 36(1996), 777-9.
Schon seit der unmittelbaren Nachkriegszeit hat die Frage, inwiefern die deutsche Bevölkerung mit dem Terror der NS-Konzentrationslager in Verbindung stand, die Öffentlichkeit beschäftigt. Doch bis zu den 1980er Jahren wurde dieser Frage nicht wissenschaftlich nachgegangen. Für diese Vernachlässigung kann man zwei Hauptursachen ausmachen. Zum einen wußten die Zeitgenossen die Antwort sehr genau, und hatten kein Interesse an einem akribischen Nachweis. Zum anderen vermochte die Generation der Kinder nicht, das Tabu des Schweigens zu brechen. Erst die nächste Generation, gewappnet mit dem Rüstzeug der Alltagsgeschichte und angetrieben vom Interesse an der NS-Zeit, durchbrach die Mauer des Schweigens. Das "schreckliche Mädchen" Anja Rosmus von Passau wurde mit ihrer Veröffentlichung Widerstand und Verfolgung am Beispiel Passaus (1983) das bekannteste Beispiel dieses Phänomens. Ein Jahrzehnt nach Rosmus hat eine andere junge Historikerin, Sybille Steinbacher, die Kleinstadt Dachau in der NS-Zeit unter die Lupe genommen. Wenngleich das kontinuierliche überregionale Interesse an Dachau den schlimmsten Blüten der einheimischen Legendenbildung vorgebeugt hat, hatte es die Ortschaft neben dem ersten und bekanntesten deutschen KZ umso nötiger, Geschichte zu kreieren, um ihren beschädigten Ruf wiederherzustellen. Das führte zu einigen verwundenen Erfindungen, die Steinbachers Untersuchung nunmehr auf den Boden der Tatsachen zurückführt. Doch geht die Bedeutung dieser Studie weit über die der historischen Legendenaufklärung hinaus. Steinbacher hat die Nachbarschaft der damals kleinen Gemeinde und des großen Konzentrationslagers im Kontext der historischen Entwicklung seit dem Ersten Weltkrieg untersucht und eine Sozialgeschichte der Beziehungen zueinander geschrieben. Dafür hat Steinbacher eine Fülle neuer Quellen ausfindig gemacht, die sie mit Fingerspitzengefühl interpretiert und zur Darlegung des sozialen Milieus um das KZ herum benutzt hat. Von dem breitgefächerten Bestand des Landratsamts und dem schmalen aber aufschlußreichen der Stadt Dachau, über die umfangreichen zeitgeschichtlichen Sammlungen des Instituts für Zeitgeschichte und der Dachauer KZ-Gedenkstätte, bis hin zu Verfahrens- und Entnazifizierungsakten der Münchner und Dachauer Gerichte und einigen Kostbarkeiten aus dem Pfarrarchiv der Dachauer Hauptkirche und dem Privatarchiv der Dachauer SPD, hat Steinbacher Schlüsselbestände einsehen dürfen. Die Auswertung dieser Quellen hat sie mit einer systematischen Durchsicht der Lokalzeitungen und einer erschöpfenden Heranziehung der Sekundär- und "grauen" Literatur zu Spezialthemen untermauert. Die 38-seitige Bibliographie enthält neben den Erinnerungen eines Dachauer NS- und Nachkriegsbürgermeisters auch Firmenchroniken, Dissertationen der 30er Jahre über Probleme von bayrischen Kommunen, und entlegenere Werke der Alltagsgeschichte. Steinbachers Entscheidung, auf die nachträgliche Befragung von Zeitzeugen zu verzichten, war sinnvoll, denn solche Erinnerungen sind inzwischen von mehreren Schichten der örtlichen Legendenbildung überlagert, was ihren Quellenwert erheblich mindert. Eine zielgerichtete Befragung wird erst ergiebig, wenn die Wogen um Steinbachers Richtigstellungen sich gelegt haben und ihre Ergebnisse verschüttete Erlebnisse wieder freigelegt haben. Als solide Untersuchung eines Schlüsselortes erhellt diese Studie den Werdegang des Nationalsozialismus vom Ersten bis zum Zweiten Weltkrieg im Mikrokosmos einer schwarz-roten bayrischen Gemeinde. Steinbachers Darlegungen sind umso faszinierender, weil sie nicht sensationslüstern Tabus zerstören, sondern nüchtern historische Tatsachen ergründen will. Sieben Fragen gliedern die Arbeit in sieben Hauptkapitel. Einleitend untersucht Steinbacher die sozialpolitische Entwicklung Dachaus seit dem 19. Jahrhundert, aber insbesondere in den 20er Jahren, als Dachau zu den ärmsten Gemeinden des Deutschen Reichs zählte. Sie wendet sich anschließend den Gründen für die Wahl Dachaus als KZ-Standort zu, um dann die Auswirkungen des Lagerbetriebs auf die kleine Gemeinde zu erörtern. Ein Hauptkapitel ist den Berührungspunkten zwischen Stadt und Konzentrationslager gewidmet, beispielsweise im kirchlichen Bereich. Anhand von reichhaltigen Unterlagen im Pfarrarchiv erläutert Steinbacher die seelsorgerische Tätigkeit des Stadtpfarrers im Lager bis 1937, dann die Phase des Kampfes zwischen Kirche und NS-Staat 1936-38, und schließlich den Lebensmittelschmuggel ins Lager in den letzten Kriegsmonaten. Die Unterabschnitte über verwaltungsmäßige, wirtschaftliche und juristische Verbindungen sind nicht weniger interessant. In kurzer Folge behandelt Steinbacher abschließend drei Fragen, die im örtlichen Nachkriegsdiskurs eine hervorragende Rolle gespielt haben: Wie verhielt sich die Öffentlichkeit zum Konzentrationslager? Welche KZ-bezogenen Widerstandsaktivitäten hat die umliegende Bevölkerung geleistet? Welche Auswirkungen hatte das Ende, die Befreiung des Lagers, auf die Stadt? Das erste Kapitel zeichnet am lokalen Beispiel nach, wie der Friedensschluß von 1919 langfristig der Machteroberung der Nazis Vorschub leistete. Eine für Dachau folgenschwere Entwicklung begann 1916 mit dem Bau einer königlichen Pulver- und Munitionsfabrik. Die Fabrikanlagen, stillgelegt nach dem Ersten Weltkrieg unter den Bestimmungen des Versailler Vertrags, standen bis zur Einrichtung des KZs 1933 zum größten Teil leer. Viele der 78000 Arbeiter, die im Ersten Weltkrieg für die Fabrik hinzugeholt wurden, blieben in und um das 7000 Seelen Dorf herum beschäftigungslos. Bis 1933 galt Dachau wegen des traditionellen katholischen Milieus und der übriggebliebenen rotneigenden Proletarier den Nazis als besonders "schweres Pflaster" (69), was jedoch der Rapidität und Gründlichkeit der braunen Eroberung keinen Abbruch tat. In der Person des Obersten Johann Hofmann ist der kontingente braune Faden von 1919 bis 1933 besonders offenkundig. Hofmann kam 1915 nach Dachau, um Bau und Betrieb der Rüstungsfabrik zu leiten. Zwischen 1922 und 1927 war er der Dachauer Vorsitzende des Bundes Oberland, eines radikalen Wehrverbandes, und im Februar 1930 wurde der inzwischen flammende Nationalsozialist einer der drei Gründer der NSDAP-Ortsgruppe Dachau. Nicht allzu lange nach Dachaus Hinwendung zum Nazismus 1933 wurde der "alte Kämpfer" von den Wendenazis verdrängt. Daß noch heute eine Dachauer Strasse seinen Namen trägt, zeugt weniger von einer rechtslastigen Einstellung der Stadt, als von jahrzehntelanger Geschichtsverdrängung und verdrehung. Als dezidierter Schlußstrich gegen diese Tendenz hat Steinbachers Arbeit schon eine gewisse lokale Berühmtheit erlangt. Die bewährtesten Schutzbehauptungen in Dachau zielen darauf hin, möglichst viel Distanz zwischen Stadt und Lager zu schaffen. Vornehmlich wird behauptet, daß die Stadt die Einrichtung des KZs nie gewollt habe, daß die Stadt in dieser Angelegenheit nie gefragt worden sei, und daß das KZ-Gelände nicht einmal zur Dachauer Gemarkung gehört habe. Steinbachers Forschungen haben ergeben, daß die damaligen Gemeindeväter, nachdem ihre jahrelangen Bemühungen um eine neue Industrieansiedlung auf dem Fabrikgelände gescheitert waren, sehr wohl 1933 um die Einrichtung eines "Lagers" bei Einführung der Arbeitsdienstpflicht gebeten haben. Steinbachers plastische Schilderung sowohl der Notlage des Dorfes in den 1920er Jahren als auch der Ahnungslosigkeit bezüglich der Beschaffenheit des Lagers ("Ob nun diese Unterbringung für die Arbeitswilligen [sic] Zwang oder freiwillig sein wird...," 82) müßte diese Initiative auch einem radikalen anti-Apologeten verständlich machen. Andererseits wirkt es befremdend, wie die (wohlgemerkt: gleichgeschalteten) Lokalzeitungen die Verbindung zwischen Stadt und Lager in den ersten Jahren feierten, bis 1935 die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen des Lagers--industrielle Neuansiedlung war nunmehr wegen Platzmangel blockiert--bemerkbar wurden. Zur dritten Behauptung schließlich: Nachdem die Hoffnungen der Dachauer Oberen auf einen wirtschaftlichen Aufschwung durch das Lager enttäuscht worden waren, konkurrierten sie seit 1937 mit den Nachbardörfern um die von der SS gesuchten Eingemeindung, diesmal erfolgreich, um wenigstens einiger Steuereinkünfte durch den Lagerbetrieb habhaft zu werden. Dies sind nur einige Beispiele für die Art, wie Steinbacher durch Quellenstudium mit tabuumrankten Behauptungen aufräumt. Die blanken Ergebnisse, die den heutigen Dachauer Oberbürgermeister zu einigen peinlichen Bemerkungen über Frau Steinbacher hingerissen haben, sind in diesem Buch von einer genauen wirtschaftlichen und sozialen Analyse begleitet, die mehr zur "Entschuldigung" (die offensichtliche Obsession der heutigen Stadtregierung) der damaligen Entscheidungen beiträgt, als das vom Touristenamt sorgsam aufbereitete Image der Stadt. Schließlich bietet diese Studie eine wissenschaftlich fundierte Darstellung davon, was die umliegende Bevölkerung zu welcher Zeit vom benachbarten KZ gewußt hat. Die vor kurzem erschienene Untersuchung von Gordon Horwitz über Dorf und KZ Mauthausen (Outside the Gates of Hell, 1990) hat die Aussagen von Zeitzeugen zu einem dichten Nachweis der Alltäglichkeit eines benachbarten Konzentrationslagers verwoben. Horwitz' Darstellung fehlt jedoch nicht nur die Frühphase der Konzentrationslager (Mauthausen in Österreich wurde erst nach dem "Anschluß" 1938 eingerichtet) und die feste Basis der Schriftquellen, sondern auch die historische Kontextualisierung. Letztere ist das Hauptthema einer dritten Studie, die in diesem Zusammenhang erwähnt werden sollte: Debórah Dwork und Robert-Jan van Pelts Auschwitz, 1270-1995 (W.W. Norton, New York, 1996), das v.a. die Verwaltungssicht auf das Lager als Wegbereiter der Ostkolonisation erschließt und dabei vieles über das zivile Umfeld des Lagerkomplexes zu Tage fördert. Während Steinbachers Stärke der lokale Rahmen ist, der das neue Forschungsgebiet der Sozialgeschichte des gesellschaftlichen Umfelds der Konzentrationslager eröffnet, macht die europäische Dimension von Auschwitz Dwork und van Pelts Werk eher zu einer Mentalitätsgeschichte der nazistischen Machthaber. Insofern sind diese beiden Arbeiten komplementär: an Dachau läßt sich der langsame, suchende Werdegang des KZ-Systems in der Vorkriegszeit nachzeichnen, die Langzeitperspektive der Nach-Siegeszeit jedoch nur an wenigen Stellen erahnen, während an Auschwitz die Zukunftsvision des Lagersystems sichtbar wird. Wie diese beiden grundlegenden und maßstabsetzenden Werke zeigen, ist das Forschungsfeld der NS-Konzentrationslager noch lange nicht ausgeschöpft. Harold Marcuse |
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