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Review
of: by
Harold Marcuse
published in Archiv für Sozialgeschichte 42(2002), 615f. |
Harold Marcuse, Rezension für Archiv für Sozialgeschichte, 42(2002), pp. 615-616. Angelika Eder, Flüchtige Heimat. Jüdische Displaced Persons in Landsberg am Lech 1945 bis 1950, Miscellanea Bavarica Monacensia, Bd. 170, 1998, 385 S., 18,82 Euro. Der 28. April 1946 war “Weisser Sonntag,” und überall im katholischen Bayern wurde Kommunion gefeiert. Aber jener 28. April war auch der erste Jahrestag eines Aufstandes von Dachauer Bürgern und entkommenen KZ-Häftlingen, der wie die Befreiung des Dachauer KZs mit grossem Aufwand gefeiert werden sollte. Am frühen Morgen machten sich zwei junge jüdische Wachposten am Tor des “Kibbuz Diessen” am Ammersee auf den Weg nach München, um vermisste Angehörige bei den dortigen Zusammenkünften zu suchen. Als ihre Abwesenheit bemerkt wurde, verbreitete sich wie ein Lauffeuer das Gerücht, die Jungen seien von ehemaligen SS-Männern entführt worden. DPs vom nahegelegenen Landsberger DP-Lager stürmten los und griffen die ersten Deutschen an, denen sie begegneten. Bis zum Ende des Tages wurden etwa zwei dutzend Deutsche mit teilweise schweren Schlag- und Stichwunden ärtzlich behandelt, zwanzig DPs sassen in Haft, ein Bus war ausgebrannt, und eine Milchlieferung verschüttet. In Dachau wurde Verbrüderung gefeiert, in Landsberg entlud sich angestauter Hass. So weit erstreckte sich das Spektrum der deutsch-jüdischen Verhältnisse ein Jahr nach dem Ende des Naziregimes. In der Erinnerung der Landsberger Bürger blieb aber vor allem das Negative haften, nämlich Schwarzmarkttätigkeit und der oben geschilderte Gewaltausbruch. Obwohl die Verletzten des “Weissen Sonntags” in der Mehrzahl über 40 Jahre alt waren (der Jüngste war 15), und niemand lebensgefährlich verletzt worden war, sprach der Volksmund noch in den 1980er Jahren vom “Mord an den Landsberger Kommunionskindern.” Erst durch die mühsame Rekonstruktionsarbeit der Historikerin Angelika Eder kann die Perspektive etwas zurechtgerückt werden: unter den wegen Schwarzmarktdelikten Verurteilten war der Anteil DPs weniger als halb so hoch, als ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung. Und Gewalt war die Ausnahme, nicht die Regel. Angelika Eder, Wissenschaftlerin an der Hamburger Forschungsstelle für Zeitgeschichte (nicht zu verwechseln mit Angelika Königseder, Wissenschaftlerin am Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung, die auch einschlägige Arbeiten über DPs geschreiben hat), hat diese detailreiche Darstellung des Sammelns und kurzen Aufblühens jüdischen Lebens in Deutschland auf breiter Quellenbasis aufgebaut. Akten der lokalen, regionalen und Besatzungsbehörden wurden ergänzt durch eine erstaunliche Vielfalt an Briefen, publizierten Erinnerungen, eigens durchgeführten Interviews, lokalgeschichtlichen Untersuchungen, und vor allem einer genauen Durchsicht der in jiddischer Sprache verfassten “Landsberger Lager-Cajtung”. Diese vom Oktober 1945 bis Sommer 1948 erschienene Zeitung wurde zum vorrangigen DP-Blatt in ganz Süddeutschland, mit Auflagen bis zu 15.000 Exemplaren. Damit ist die Frage nach der Repräsentativität dieser Fallstudie gestellt: Inwiefern können die Zustände in Landsberg für deutsch-jüdische Nachkriegsbeziehungen insgesamt gelten? Landsberg war vielleicht eine “typische” Kleinstadt, aber untypisch war erstens, dass sie von der Luftzerstörung verschont blieb (nur die SS sprengte zwei Brücken bei Kriegsende), zweitens, dass sie nie eine eigene jüdische Gemeinde gehabt hatte, und drittens, dass sie Ort des Gefängnisses war, wo einst Hitler einsass, dann die verurteilten Nürnberger Menschheitsverbrecher im “War Criminals Prison” auf ihre dortige Hinrichtung warteten. Doch zeigt ein Vergleich mit zahlreichen anderen Lokalstudien, dass diese Besonderheiten nicht verzerrend wirken, sondern wie ein Brennglas typische Strukturen der Nachkriegsgesellschaft deutlicher hervortreten lassen. Landsbergs vergleichsweise Unversehrtheit lässt die Tendenz der Deutschen, sich selbst als Hauptleidtragende des NS-Regimes zu sehen, krasser erscheinen als anderswo. Sicherlich waren die Beschlagnahmungen und laufenden Ernährungsabgaben, die Eder im einzelnen nachweist, eine enorme Bürde, aber verglichen mit der massiven Plünderung des Kovnoer Ghettos, woher viele der Landsberger DPs kamen, war die Last keineswegs beschwerlich. Auch das kleinliche Feilschen um die Zahl der Toten des umfangreichen Kauferinger KZ-Komplexes, der Landsberg mit umfasste, zeigt nur, wie unfähig die Lokalbevölkerung blieb, über den engen eigenen Horizont hinauszuschauen. Erst durch die Nachfragen der Historikerin kamen Einzelne dazu, sich die positiven Beiträgen der DPs zum Stadtleben wieder ins Gedächtnis zu rufen. Da weder von vorher noch von nachher Zeugnisse existierten, konnte auch dieser kurze Zwischenaufenthalt von Juden in Landsberg problemlos den Klischees der Fremdenfurcht anheimgegeben werden. So schwebte bis zu dieser hervorragenden Rekonstruktionsarbeit das DP-Lager im Stadtgedächtnis als vager, bedrohlicher Schatten über der Stadt, während das Männergefängnis eher Sammelpunkt von Widerstandsbestrebungen gegen die "inhumane" Behandlung der Organisatoren des Massenmordens wurde. So mussten hunderte jüdischer DPs 1951 auf die Strasse gehen, um tausende demonstrierende deutsche Menschenrechtskämpfer daran zu erinnern, dass sie nie so zahlreich der Opfer der von ihnen bemitleideten Todeskandidaten gedacht hätten. Doch die Herausarbeitung und Analyse des deutsch-jüdischen Nachkriegsverhältnisses
in Landsberg ist nicht die Hauptausrichtung des Buches, sondern Thema
nur des letzten seiner vier Hauptteile. Die ersten beiden kurzeren behandeln
die Stadtgeschichte bis 1945, und 1945 bis 1950. Sie zeichnen mustergültig
nach, wie aus den Besonderheiten der vor-NS- und NS-Geschichte viele spezifische
Züge der Nachkriegszeit sich herleiten lassen, wenn die Bevölkerung
auch keine Verbindungen sehen mochte. Im Kontext des Buches stellen diese
Abschnitte den lokalen Hintergrund dar, vor dem sich die Hauptgeschichte
abspielt. Der dritte, zentrale Abschnitt dient der Rekonstruktion jüdischen
Lebens im DP-Lager. Dabei wechselt Eder problemlos zwischen der Rahmengeschichte
der institutionellen Betreuung der DPs in internationaler und lokaler
Regie, der psychologischen und soziologischen Beschreibung des Lagers,
und den politischen und kulturellen Aktivitäten seiner BewohnerInnen.
Nuancierte Interpretationen der vielfältigen Zeugnisse der Lager-Cajtung,
bald in Jidisze Cajtung umbenannt, illustrieren und untermauern dabei
ihre Ergebnisse. Harold Marcuse |
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